Kapitel 4 Ankunft auf Myr

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Feine Sonnenstrahlen rieselten durch das Fenster einer kleinen Holzhauses am Hafen hinein und kitzelten Keno langsam und ganz sanft wach, sodass er die Nase rümpfte und niesen musste. Verschlafen rollte sich Keno aus dem Bett und trat seinen ersten obligatorischen Weg zum Wasserkocher an. Morgens bei einer frisch gebrühten Tasse Ostfriesentee mit Zucker und Milch ließ es sich am besten den Tag einläuten. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es heute ein erstaunlich sonniger Tag für Myr werden würde, auch wenn sich das schlagartig ändern konnte. Schließlich lebte er auf einer kleinen Insel in der Ostsee und die war den Gezeiten völlig und komplett ausgesetzt. Das war mal richtiges Wetter. Nicht so ein bisschen Nieselregen hier und ein Windchen da, sondern sich ständig ändernde Wettergegebenheiten. Bei Regen erweckte die ganze Insel so richtig zu Leben. Versonnen in seinem Tee rührend ließ er sich den Gedanken an einen schönen stürmischen Tag auf der Zunge zergehen und schätzte sich wieder einmal glücklich, nicht den ganzen Tag eingesperrt in einem Büro hocken oder inmitten von stickiger Abgasluft und Verkehrslärm arbeiten zu müssen. Am liebsten war er an der frischen Luft.Er stellte seine Dusche an und ließ sie einige Minuten laufen bis sie komplett heiß war. Das kleine Radio im Badezimmer dudelte vor sich hin und ein fröhlicher Radiomoderator babbelte schwungvoll über den wundervollen Tagesanbruch und spielte dann einen Sommerhit an, den Keno lauthals unter der Dusche mitsang. Morgens fühlte er sich immer frisch und voller Energie, es war einfach seine Zeit und er konnte sich gar nicht vorstellen, wie andere bis in die Puppen schliefen. Am liebsten stand er mit dem ersten Sonnenstrahl auf und ging mit der Dämmerung ins Bett, auch wenn er dadurch im Winter in eine Art Winterschlaff fiel, weil es dann auf Myr nur selten hell war. Immerhin wurden die meisten Bauvorhaben buchstäblich aufs Eis gelegt, sodass seine Kompetenzen sowieso nicht gefragt waren. Dann fuhr er regelmäßig zu der als Werkstatt umfunktionierten Hütte am abgelegenen Teil der Insel und ging stundenlang seinem Hobby nach, wozu er leider im Sommer viel zu wenig kam.Frisch geduscht, schlüpfte er in eine praktische Jeans und in ein altes T-Shirt, bevor er draußen auf die Hafenstraße in einen neuen Tag lief. Die Fischer kamen gerade von ihrer morgendlichen Tour zurück und begrüßten ihn mit einem eher miesepetrigen „Moin, moin!".Keno ignorierte ihre schlechte Laune und winkte grüßend fröhlich zurück. „Wie ist die Ausbeute heute?"Tjarks Blick verriet ihm, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Erst seit ein paar Jahren war er Kapitän der kleine Flotte und führte so das Lebenswerk seines Vaters fort.„Jo, es geht. Ein paar Heringe hier, ein paar Makrelen da.", antworte ihm Tjark, während er mit gerunzelter Stirn seinen Fang inspizierte und die Fische in einzelne Kisten sortierte. Sein wettergegerbtes Gesicht und die breite muskulöse Brust, verrieten offensichtlich, dass Tjark die körperliche Arbeit auf dem Kutter gewohnt war. Kein Wunder, denn schon als kleiner Junge nahm ihn sein Vater mit zum Fischen und Keno erinnerte sich noch gut daran, wie Tjark Stolz seine erste eigene Angelrute präsentierte. Die beiden Jungen sind daraufhin jeden Tag der Sommerferien mit ihren Fahrrädern zu einen kleinen Tümpel am See gefahren und kamen erst zurück, wenn sie etwas gefangen hatte, was meist Stunden dauerte, weil so richtig still halten, konnten sie damals noch nicht. „Ich warte noch auf die Rückkehr von Ando und Magnus, die sind im Norden zum Fischen. Mal sehen, ob die mehr Glück haben. Bei dem sonnigen Wetter sehe ich aber eher schwarz.", brummte er.„Na dann, drücke ich die Daumen, dass es demnächst mal wieder regnet.", zwinkerte Keno ihm zu und erntete ein kleines Lächeln, dass er aus einen zuckenden Mundwinkel deutete. Erst jetzt fiel Keno die Abwesenheit von Kalle auf, der normalerweise jeden morgen zum Hafen schlenderte und die Arbeit seines Sohnes mit auf den Rücken verschränkten Armen beobachtete und ihm dann anerkennend auf die Schulter klopfte. Auch wenn er sich offiziell aus dem Geschäft verabschiedet hatte, so konnte er es doch nicht lassen nach dem Rechten zu schauen. Vermutlich würde sich Kalle Engström nie zur Ruhe setzen. „Wo hast du denn deinen Vater gelassen?"Tjark zuckte mit den Schultern.„Keine Ahnung, wo der sich rumtreibt, aber vermutlich liest er gerade das Myrer Tageblatt, während er sich von meiner Mutter mit Frühstück verwöhnen lässt.", er zog eine Grimasse bei dem Gedanken. Tjarks Mutter war die typische Hausfrau und hatte mit drei kleinen Jungs auch alle Hände voll zutun. Dass ihr Mann nun in Rente war und mehr Zeit zuhause verbrachte, nutzte sie direkt aus und verwöhnte ihren Kalle nach Strich und Faden. „Der wird auf seine alten Tage noch kugelrund.", schüttelte Tjark mit dem Kopf und wurde prompt von Oskar unterbrochen, der wie jeden morgen pünktlich auf die Minute zum Hafen kam, um frischen Fisch für sein Restaurant zu kaufen. Seine voluminöse Statur erkannte man meist schon meterweit im Voraus, wenn man nicht als erstes hörte.„Moin, moin!", donnerte er mit dröhnender Stimme und steuerte, ohne Keno einen Blick zu würdigen, direkt auf den Fang zu, um die Ausbeute zu besichtigen. „Na das sieht ja mager aus.", entgegnete er missmutig.„Magnus und Ando sind noch nicht zurück.", erklärte Tjark erneut und legte dieses Mal mehr Hoffnung in seinen Unterton, was Keno zum Schmunzeln brachte. Während Tjark und Oskar über den Tagesfang handelten, verabschiedete sich Keno diskret, was allerdings keiner von ihnen zu merken schien und lief weiter den Hafen entlang Richtung Anlegestelle. Hier lag gut sichtbar die Touristeninformation seiner Eltern, von wo aus seine Familie Touristen den Weg wies, Aktivitäten auf ganz Myr anbot und die Reservierungen für ihre Ferienhäuser steuerte. Die einzig weitere Unterkunftsmöglichkeit war ein Hotel im östlichen Teil der Insel, mit dessen Inhabern sie schon eh und je zusammenarbeiteten. Das war auf so einer kleinen Insel wie Myr Ehrensache und man unterstützte sich gegenseitig, wo man konnte. Keno blickte durch die große Fensterfront zum gemütlichen Empfangsbereich für eincheckende Feriengäste. Dieser war ausgestattet mit zwei Sesseln und einen mit Alpenveilchen dekorierte Tisch, auf denen diverse Zeitschriften ausgelegt waren, die die Touristen zu verschiedenen Aktivitäten inspirieren sollen. Das Schild an der Tür war bereits auf Offengedreht. Anscheinend war sein Bruder Lijan schon da und bereitete die ersten Reservierungen vor. Normalerweise war sein kleiner Bruder Langschläfer und nie ein paar Minuten bevor die erste Fähre anlegte an seinem Platz.Achselzuckend betrat er das Büro, „Guten Morgen Bruderherz." Lijan schaute von seinem Computer hoch, um eine obligatorische Begrüßung zu murmeln. Sein leicht zerknautscht wirkendes Gesicht sprach Bände von einer langen Nacht, in der er wohl mal wieder zu wenig Schlaf fand. Lijan ließ einfach nichts anbrennen und kam zu allem Übel mit seiner charmanten Art bei den Frauen viel zu gut an. Keno wußte nicht, wo das ganze noch hinführen sollte, konnte sich aber einen Kommentar nicht verkneifen.„Lange Nacht gehabt, was?"„Mhm.", brummte Lijan nur, was Keno zum Lachen brachte und ihm einen bösen Blick von seinem Bruder einbrachte. In dem Moment lief Anea am Fenster vorbei und lächelte verschmitzt Lijan zu. Plötzlich ahnte Keno, was sein kleiner Bruder letzte Nacht getrieben haben musste.„Anea? Lijan, ist das etwa dein ernst? Sie ist die Tochter von Oskar. Der bringt dich um, wenn du ihr das Herz brichst."„Das geht dich gar nichts an", fauchte Lijan und seine Augen funkelte böse. Keno seufzte. Er liebte seinen kleinen Bruder wirklich. Nur hatte ihm das Studium irgendwie verändert. Sein Selbstbewusstsein hatte sich auf eine negative Art und Weise eindeutig ins unermessliche potenziert. Mit seinem stylischen Stadtoutfit und den aufwendig gegelten Haaren sah er aus wie Prince Charming persönlich und leider verhielt er sich auch so. Keno wußte, dass er sich Lijan mal zur Brust nehmen musste. Von Bruder zu Bruder. Diese ganze Situation war einfach nur noch nervig und brach ihm langsam zur Weißglut. Was dachte sich Lijan nur dabei? Ihm beschlich das Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmte und nahm sich fest vor es bald zutun.Doch erstmal wollte er sich seinen aktuellen Projekte widmen. Schon früh hatte er seine Leidenschaft für den Bau und die Ausgestaltung von Häusern entdeckt. Dazu muss man sagen, dass Myr damals im zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört wurde und seine Großeltern beim Wiederaufbau eine große Rolle gespielt haben. Nach und nach erschufen sie Häuser für Einheimische und errichteten dann auch Ferienhäuser für Touristen. Die Familie Jenson ist deshalb auf Myr so etwas, wie Justin Biber in den USA. Nach dem Tod seiner Großeltern führten seine Eltern, Johan und Magit, das Geschäft fort, weshalb er schon als kleiner Junge viel auf dem Bau gespielt hatte. Sein Vater erkannte rasch, welches Potential in seinem Sohn schlummerte und entwickelte es bis ins Alter weiter. Nach der Schule absolvierte er eine umfangreiche Ausbildung und war heilfroh wieder zurück auf Myr zu sein. Er nahm zwar unfassbar viel mit, aber die Praxis machte ihm einfach mehr Spaß. Keno setzte sich an seinem Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch und studierte seine Emails. Frau Nyberg fragte nach einem neuen Anstrich ihres Hauses. Die Gezeiten rissen an ihrer Fassade und sie bröckelte. Seit ihr Mann vor etwa zwei Jahren verstorben war, musste sie sich um alles selber kümmern und war dankbar für jede helfende Hand. Im Gedanken an ihren berühmten Apfelkuchen, schlug er ihr einen Termin vor. Er wollte gerade auf Senden drücken, da klingelte das Windspiel an der Tür. Eine ziemlich abgekämpft wirkende zierliche Frau trat ein. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie unordentlich in einen Dutt hochgesteckt, aus den sich jetzt einzelne Strähnen gelöst hatten und ihr vor Anstrengung errötetet Gesicht einrahmten. Auch wenn ihr Gesicht von Stress und Müdigkeit gezeichnet war, so blitzten ihre Augen abenteuerlustig auf und weckten Kenos Interesse. „Willkommen auf Myr! Was kann ich für Sie tun?", hörte er seinen Bruder mit honigsüßer Stimme auswendig aufsagen und Keno stöhne leise innerlich auf. „Mhm, also, ich ähm." „Ja?". „Ich hätte gerne ein Zimmer oder eine Ferienwohnung." „Haben sie reserviert?"„Nein.", antwortete die Frau. An ihrem Gesicht konnte Keno ihre Enttäuschung ablesen und wunderte sich warum jemand zur Hochsaison ohne Reservierung auf eine Insel reist. Lijan tippte eifrig an dem Computer herum und tätigte dann noch einen Anruf, bevor er der Frau die Hiobsbotschaft verkündete.„Bedaure, wir sind ausgebucht.", sprach er den Satz aus, den er schon befürchtete, „Auch im Seestern Hotel ist nichts mehr frei." Ein Seufzer durchfuhr sie und senkte traurig den Kopf. Keno beobachtete, wie sie gerade kehrt machen wollte, als er sich sagen hörte, „Nicht ganz, eine Option gäbe es da noch."Die Frau fuhr erschrocken herum und versuchte abzuwägen, woher die Stimme kam bis sie ihn entdeckte. Dann schaute sie ihm direkt in die Augen. In ihrem Blick schwang Ungläubigkeit und Neugier mit und irgendwas verriet ihm, dass sie nur zu gerne nach genau diesen Strohhalm greifen würde. Ein kleiner Teil in ihm wollte unbedingt herausfinden, warum sie hier war und was sie hierher verschlug. Er räusperte sich.„Ein Ferienhaus wäre noch frei. Ich bringe Sie hin.", sagte er simpel und griff nach den Schlüsseln. Lijan beobachtete die Szene mit verschränkten Armen und musste sich ein Lachen verkneifen. Die Frau überlegte einen Augenblick und zögerte, ob sie mit dem fremden mitgehen oder sich eines besseren besinnen sollte. Doch bevor sie sein Angebot abschlagen konnte, nahm Keno ihr die Entscheidung ab, indem er ihren Koffer packte und ihn nach draußen beförderte. Ohne nochmal einen Blick zurückzuwerfen, folgte sie ihm in die frische Morgensonne. Keno verstaute ihren Koffer und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Übrigens, ich bin Keno.", streckte er die Hand aus.„Emilia.", schlug sie ein, „Freut mich sehr."

Ein SommertraumWhere stories live. Discover now