Kapitel 6 Jannes Rückkehr

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Das zerschmetternde Geräusch ihres Handys auf dem Asphalt, klang Janne immer noch im Ohr. Die vor Menschen wimmelnde Alsterpromenade stand für sie mit einem mal still. Mit aufgerissenen Augen und die Hand, in der sich vorher noch ihr Handy befand, am Ohr. Ihr Atem stockte so sehr, dass sie fast befürchtete selber aufzuhören zu atmen und an Ort und Stelle umzukippen. Ein Teil von ihr wünschte sich genau das. Sie wollte weinen, schreien, sich auf dem Boden werfe, doch stattdessen blieb sie einfach nur stehen und blickte durch die Gruppen an Menschen hindurch, die sie Stirnrunzeln musterten und sich ärgerten um sie herum zu laufen. Irgendwann setzte sie sich schlafwandelnd wieder in Gange und bewegte sich wie in Trance zur U-Bahn, mit der sie einige Runden drehte bis sie sich bereit genug fühlte, an ihrer Station auszusteigen. Wenn sie daran zurückdachte, hatte sie keinerlei Erinnerungen mehr an den Heimweg. Da wo mal die Erinnerung war, befand sich ein schwarzes Loch, wie nach einem Filmriss nach einer lang durchzechten Nacht. Immer noch völlig neben der Spur, brachte sie es irgendwie fertig einen Koffer zu packen und einen Zug nach Travemünde zu buchen, von wo aus sie zurück nach Myr fahren würde, um die Beerdigung ihrer Eltern zu planen. Das der Moment irgendwann kommen würde, weiß wohl jeder, doch, dass er so schnell und ohne jegliche Vorahnung kommen würde, damit hatte niemand gerechnet.„Sie sind Tod.", hörte sie immer noch Magits Stimme in sich Wiederhallen. Tod. Es war so unwirklich und sie versuchte es sich immer und immer wieder vorzustellen. Als der Satz endlich zu ihr durch den Nebel, der sich in ihren Kopf breit machte, drang und sie ganz langsam realisierte, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen würde, sank sie in sich zusammen und weinte bitterliche Tränen bis zur Erschöpfung. Sie saß einfach so da. Zusammen gekauert auf dem Boden bis die freundliche, warme Sonne allmählich am Horizont verschwand und nur noch die Straßenlichter ihr Zimmer erhellten. Ihr Handy vibrierte und sie fragte sich, wann sie es von der Straße wieder aufgelesen hatte und vor allem wie es hier auf den Nachttisch gelangt war. Es war ihr Bruder.„Hast du es schon gehört?", hörte sie seine vertraute Stimme, die noch nie so zaghaft und dünn klang wie jetzt.„Ja. Ich kann es einfach nicht fassen.", sagte sie und kämpfte wieder mit den Tränen. „Ich bin morgen auf Myr.", antwortete er knapp, ohne etwas auf ihre Aussage zu erwidern. Anscheinend ging es ihm genauso nahe wie ihr.„Wann kommst du an?"„So in etwa gegen 16 Uhr."„Okay, ich bin schon etwas früher da und warte auf dich in der Bäckerei bevor...", sie stockte, „..bevor wir zum Haus gehen."„Ja, so machen wir es."„Bis morgen."„Ja, bis morgen."Sie legten auf und eine gespenstische Stille breitete sich wieder in ihrem Zimmer aus. Eine weitere Tränenflut stürzte auf sie ein und dieses Mal weinte sie so lange bis sie vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf fiel.„Achtung, der ICE 5304 fährt nun auf Gleis 3 ein". Eine Menschentraube ging in Startposition, wie Sprinter beim Startschuss zu einem wichtigen Rennen und drängten sich eng an die Ausgänge. Es entstand eine Art Massenpanik, um den Eintritt der Bahn, der nur eine schmale Gasse für aussteigende Passagiere freihielt. Als ob die Bahn jederzeit mir nichts, dir nichts, losfahren und Leute zurücklassen würde. Janne stellte sich vor wie panisch kreischende Leute sich gerade noch an der sich schließende Tür festhielten oder sich klammernd auf das Dach retten würden, nur um den Zug nicht zu verpassen. Sie blieb auf ihren nun relativ freien Warteplatz und beobachtete die willkommene Ablenkung bis sie selber den Zug bestieg und auf ihren reservierten Sitzplatz einnahm. Die Bahn war heute erstaunlich pünktlich und so gelang sie ohne Verspätung nach Travemünde, wo bereits die Fähre nach Myr auf sie wartete. Eine kalte Meeresbrise wehte über das Buk der Fähre und der Himmel verdichtete sich zu einer düsteren Wolkendecke. Die See wurde rauer, je weiter sie hinausfuhren. Janne fröstelte. Sie stand trotz leichten Nieselregen draußen und beobachtete das immer näher herankommende Festland der Ostsee-Insel, ihrer Heimat. Das Licht in der Ferne wirkte noch wie weit entfernte Sterne am Horizont und doch machte sie sie geradezu sprachlos. Sie kuschelte sich in ihren olivegrünen Regenparker und zog das Band an der Kapuze fester um ihren Kopf, damit keine Regentropfen den Weg ins Inneren fanden. Ihre Hände wärmte sie an einer Thermoskanne mit heißen Tee. Völlig im Gedanken verloren blickte sie auf die zahlreichen glücklichen Erinnerungen zurück. Kindheitserinnerungen mit ihren Eltern, die ihr nun einen Stich versetzten. Wie sie sich alle an ihrem Geburtstag verkleideten und mit einem Bollerwagen bewaffnet eine Schnitzeljagd um die Insel machten. Das Picknick, dass auf sie am Ende als Schatz wartete und dass ihre Mutter so liebevoll für sie alle vorbereitete. Wie sie jeden schönen Tag im Sommer am Strand verbrachten, wo ihr Vater sie in seinem kleinen Boot hinaus paddelte und sie auf dem offenen Meer schwimmen gegangen waren, obwohl es bitterkalt war und es ihnen nichts ausgemacht hatte. Wie Thom und sie oft Zeit in ihrem zweiten Zuhause, dem Hotel ihrer Eltern unterstützten und sie ihrer Mutter dabei half, das Frühstück vorzubereiten und Thom seinen Vater bei „Männerarbeiten" anpacken half. Sie kämpfte mit den Tränen. Schnappte nach der gefrorenen Luft, die sich kalt in ihren Lungen füllte und in einer warmen Wolke wieder zurück an das Meer gegeben wurde. „Janne", hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich und drehte sich um. „Finn, wie geht es dir?", begrüßte sie den Mann hinter ihr. Finn leitete den Fährbetrieb zwischen Travemünde und Myr. Normalerweise arbeitete er vom Festland, reiste aber an freien Tagen zurück auf Myr, wo seine Familie noch lebte. „Gut, gut.", antwortete er und fragte wohl aus Respekt nicht, wie es ihr ging. Anscheinend verbreitete sie die Neuigkeit von dem tragischen Unglück ihrer Eltern wie im Flug und es würde sie nicht wundern, wenn es sowieso schon jeder weiß. Bei dem Gedanken an die vielen mitleidserregenden Gesichter, die sie wohl überall in ihrer Heimat erblicken wird, wäre sie am liebsten aufs Festland zurück geschwommen. Umso dankbarer war sie für Finne Diskretion. „Es tut mir wirklich sehr Leid.", sagte er bedeckt und man merkte, dass er es aufrichtig meinte, „Wenn du irgendwas brauchst, Janne, ruf mich gerne jederzeit an, hörst du?"Sie nickte knapp und umarmten ihn zur Antwort, während sie sich beste Mühe gab, nicht direkt hier auf der Fähre in Finns Armen zusammenzubrechen. Stattdessen öffnete sie die Augen und sah über seine Schulter hinweg wie die Punkte am Horizont langsam das Bild einer Laterne oder eines hell erleuchtenden Hauses an der Hafenpromenade formten. Je näher sie rückte, desto mehr wurde das Unvermeidliche zur bitteren Realität. Wenige Sekunden später erreichten sie den Kai und es ertönte eine Lautsprecherdurchsage. „Du machst dich besser bereit. Wir legen gleich an", sagte Finn schließlich und verschwand ins Innere der Fähre.Die Fähre legte an einer weit vom Festland abstehende Seebrücke an und fuhr mit einem klackern die Hängebrücke runter. Die meisten reisten für ein Tagesausflug oder Wochenende am morgen an, weshalb die Fähre zu dem Zeitpunkt schon relativ leer war. Zurück auf die Insel kamen abends eher Einheimische, die in Lübeck arbeiteten. Das waren aber nur die wenigsten. Janne schnappte ihren Koffer und stieg über die nun heruntergefahrene Hängebrücke auf den Steg, der mit einem weißen Holzzaun gut abgesichert war. Ein paar Meter vor ihr waren in der Mitte der Seebrücke Ticket- und Toilettenhäuschen mit einer separaten Überdachung für wartende Reisende, wo auch tatsächlich ein paar Familienangehörige ihre Gäste in Empfang nahmen. Janne zog sich ihre Kapuze über den Kopf, um unerkannt zu bleiben. Wenigstens ein bisschen wollte sie noch für sich bleiben bis sie sich ihrem Verlust stellen musste. Sie lief zielsicher auf die kleine Bäckerei im Stadtkern zu und wurde herzlich von Lotta, der rundlichen Verkäuferin in der Bäckerei empfangen. Ein Schweigen breitete sich aus und keiner wußte so recht, was er nach einem solchen Unglück sagen sollte. Alle trösteten Worte wirkten so klein und nichtig, dass lieber gar nichts gesagt wurde.„Ich mach dir ein Tee. Setz dich gerne zu uns nach hinten.", tätschelte sie Jannes Schulter und die nahm das Angebot dankbar an.„Kannst du ein Blick darauf haben, ob Thom ankommt? Er müsste auf der nächsten Fähre sein."„Klar, mach ich das. Wo schläft ihr zwei denn."„Im Haus unserer Eltern.", Janne senkte den Blick und Lotta bereute ihre neugierige Fragerei sogleich. Sie erwiderte jetzt am besten gar nichts mehr. Völlig im Gedankenversunken saß sie am Tisch, den Kopf an eine Faust gestützt und mit der anderen im Tee rührend, während sie beobachtete wie sich der Honig im dampfenden Pfefferminztee auflöste. Ihre Mutter hatte ihr immer frischen Pfefferminztee ans Bett gebracht, wenn sie krank war und einen Löffel Fenchelhonig, den sie abgöttisch liebte. Mit einer Wärmflasche unter der Decke und ihren Lieblingshörbuch ließ sie Agnes dann sich auskurieren. Wie konnte sie jetzt nicht mehr da sein?Ein Läuten an der Tür kündigte Thom an und die Geschwister lagen sich einen langen Augenblick in den Armen. Sie hatten ein inniges Verhältnis, obgleich es durch die räumliche Entfernung ein wenig eingeschlafen war. Ihr Bruder war nicht der große Redner und so telefonierten sie eigentlich nie. Wenn sie sich dann aber sahen, war es so, als wären sie nie getrennt gewesen. Arm in Arm brachen sie den Weg zum Haus an, in dem alles noch genauso war, wie sie es kannten. Die hübschen weiß gebeizten Möbel, die mit Blumen und Bildern dekoriert waren, die fröhlich bunten Gardinen, die ihre Mutter so liebte und für die sie ihr Vater immer neckte, sogar eine Kanne Tee stand noch auf dem Küchentisch, als ob ihre Mutter jederzeit herein schneite und sie fröhlich begrüßen würde. Janne bekam eine Gänsehaut und Thoma legte ihr wie aufs Stickwort den Arm um die Schultern, um sie im nächsten Moment an sich heranzuziehen. „Wäre es okay, wenn ich heute Nacht bei dir mit im Bett schlafe?", fragte Janne leise und eine weitere Erinnerungsflut überkam sie. Schon früher bei Gewitter ist sie immer zu ihrem Bruder ins Bett gekrochen.„Ich hätte nichts anderes erwartet."Niemand von ihnen wollte wirklich alleine sein. Nicht heute Nacht, nicht in dem Haus ihrer Kindheit, wo alles an die zwei Menschen erinnerte, die sie verloren haben.

Ein SommertraumWhere stories live. Discover now