Kapitel 7 Das Unglück

12 1 0
                                    

Die Woche verging wie im Flug und Emilia fühlte sich wie im Traum. Immer wieder liefen die Erinnerungen daran, wie sie ihren Job gekündigt hatte und dann durch einen Zufall auf Myr gelandet war, im Traum an sie vorbei. Schmunzelnd musste sie daran zurückdenken wie sie im Café gesessen und völlig geistesabwesend durch das große Fenster auf die Fußgängerzone in Berlin geschaut hatte. Sie hatte dabei nicht bemerkt, wie eine Kellnerin begann, um sie herum aufzuräumen und sie irritiert musterte. Die Kellnerin runzelte die Stirn und stützte ihre Hände in die Taille.„Na Schätzchen, allet paletti da drüben?", riss die Dame mit typischer Berliner Schnauze sie aus dem Gedanken und sie konnte nicht anders als ihr verdattert in die Augen zu blicken.„Siehst aus als könnt'st de ma wieder Urlaub jebrauchen, wa?", die Kellnerin deutete auf einen Flyer, „Ist een echter Jeheimtipp."Die Frau nickte zufrieden und verschwand mit ihrem vollen Tablett Richtung Küche. Emilia starrte eine Sekunde auf dem Flyer und murmelte etwas vor sich hin. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, war sie aus dem Café gestürmt und auf den nächsten Laden zugesteuert. Da, wo sie hinwollte, brauchte sie schließlich etwas zum Anziehen. Sie informierte kurz ihren Vater und keine zwei Stunden später fand sie sich am Berliner Hauptbahnhof wieder, auf dem Weg nach Myr.Das alles schien schon ewig her zu sein. Wie ein anderes Leben, dass sie geführt hatte und teilweise immer noch wehmütig zurückdachte. Wäre Lisa nicht, würde sie jetzt erfolgreich ein Ressort führen und weiterhin ihrer Leidenschaft nachgehen. Sie würde schreiben und nicht nur darüber nachdenken es bald wieder zu tun. Ihre Finger kribbelten schon vor geballter Spannung wieder einen Stift in die Hand zu nehmen und immer wieder beschwichtigte sie sich, dass es im Moment nichts gab, worüber sie schreiben konnte. Das alles war so kontrovers. Ein Teil von ihr wollte wieder in die Agentur und in ihr altes Leben zurück, wohingegen ein anderer Teil sich vehement dagegen wehrte und nie wieder zurückwollte. Sie wußte gar nicht, woher dieses Gefühl auf einmal kam und konnte es auch gar nicht zuordnen. Natürlich konnte sie nicht zurück, jetzt wo Lisa das Ressort unter ihre künstlichen Fingernägel gerissen hatte, aber irgendwas tief in ihr, sagte ihr, dass es nicht der eigentlich Grund war, warum sie nicht zurück konnte. Es war eine kleine zarte Stimme in ihren Kopf, die sich ganz langsam an die Oberfläche kämpfte und sie nur hörte, wenn sie ganz bei sich war. Irgendwas hatte sie auf ihren so klar vor ihr ausgebreiteten Weg übersehen und sie zermarterte sich den Kopf, was es bloß sein könnte. Ein tiefer Seufzer durchfuhr sie. Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut.Dann bemerkte sie ein anderes Gefühl, dass sich in ihrer Magengrube ausbreitete und ihr signalisierte, dass es Zeit für das Frühstück war. Frisch geduscht verließ Emilia das Strandhäuschen und steuerte direkt auf den schmalen Weg zu, der sie Richtung Zentrum führte. Es hatte nich mal einen Tag gedauert bis sie sich auf Myr zurecht fand und diese Abkürzung entdeckte. Die bunten Häuser um sie herum hatten etwas Schwedisches an sich und gaben ihr das Gefühl durch eine Märchenwelt zu laufen. Als ob Schneewittchen und die sieben Zwerge auf einmal vor sie auf die Straße springen würden und sie zum Essen einladen würden.„Moin, moin, schon so früh unterwegs?", ließ sie herumwirbeln bis sie seine freundlichen blauen Augen entdeckte, die sie neugierig musterten. Keno fuhr gerade im Auto an sie vorbei und schien mal wieder auf dem Weg zu sein, einer der Häuschen zu vollenden. Überhaupt stellte sie in den letzten Tagen häufiger fest, dass er hier einen neuen Anstrich vornahm oder da ein neues Möbelstück lieferte. Manchmal kam er mit Handwerkern angerückt, die noch letzte Montagearbeiten übernahmen oder er schlenderte wie beiläufig alleine vorbei mit einem Pfeifen auf dem Lippen und jedes Mal, wenn sie ihn entdeckte durchzog sie ein ungewohntes Kribbeln. Dabei kannte sie ihn doch kaum und außerdem, wo sollte das ganze hinführen? Schließlich wußte sie nicht, wie lange sie auf Myr bleiben würde und Gefühle zulassen machte jetzt überhaupt keinen Sinn. Zumal sie sich ja auch schließlich erstmal um sich selbst kümmern musste. Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass sie ihn mit seinen verwegenen langen blonden Haar und jungenhaften Lächeln, attraktiv fand. „Mein Magen treibt mich an und du? Mal wieder in Mission Strandhäuser unterwegs?"„So ist es", lächelte er mit einem jungenhaften verschmitzten Lächeln, das ihre Beine wie Pudding erscheinen ließ. „Heute richten wir endlich Haus Nummer zwei komplett ein und wenn alles gut läuft, bekommst du bald ein paar Nachbarn..."Emilia ließ die Worte über sich ergehen und erschauderte. Auf Nachbarn hatte sie so gar keine Lust. Viel zu sehr genoss sie die Ruhe und wollte am liebsten, dass es so blieb, aber was erwartete sie? Natürlich wollte er die Häuser so schnell wie möglich startklar bekommen und vermieten. „...übrigens werden nächste Woche endlich die Leitungen für das Internet verlegt, aber da sag ich dir nochmal genauer Bescheid, okay?"„Okay, danke für die Info!", sagte sie nur knapp und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Doch ihr Gesicht sprach vermutlich Bände. „Gut, ach und noch was. Heute findet das Myrer Strandfest statt und ich dachte mir du könntest ein bisschen Abwechslung gebrauchen, mhmm?"„Klingt gut! Ich überlege es mir."„Alles klar, dann halte ich dich nicht länger auf."Emilia beobachtete wie er davon sauste und ärgerte sich über sich selber. Wieso brachte sie einfach kein Wort heraus? Keno war so nett zu ihr und sie war so unhöflich zu ihm. Was war nur los mit ihr? Es gab so vieles, was sie ihm am liebsten gesagt hätte und wenn er dann vor ihr stand, fand sie nie die richtigen Worte. Wie gerne würde sie mit ihm zusammen zu dem Fest gehen, doch innerlich verkrampfte sie sich so sehr bei dem Gedanken unter Leute zu gehen und über sich erzählen zu müssen. Was sollte sie schließlich auch sagen? Hallo, ich bin Emilia und arbeitslos. Ihre Situation Hand wie eine unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrer Umgebung. Doch statt darüber zu klettern und sich endlich jemanden anzuvertrauen, zog sie sich lieber zurück. Dann meldete sich wieder die kleine zarte Stimme in ihren Kopf. Los, geh schon hin. Sie wischte mit ihren Händen in der Luft herum, als ob sie eine Fliege davon scheuchen wollte, was sie ein paar irritierte Blicke von Passanten einbrachte. Ein Geruch von frisch gebackenen Brötchen erreichte sie und brachte ihren Magen zum Knurren. Sie folgte den Duft immer der Nase entlang und fand sich vor der Tür der kleinen Bäckerei mit Strandblick wieder. Erste Sonnenstrahlen drangen durch die Wolkendecke in den gemütlichen Wintergarten mit Sitzbereich. Sie trat durch die Glastür, die sie zu einem gemütlichen Innenbereich führte und mit so erstaunlich vielen schwatzenden Menschen gefüllt war, dass dieser fast aus allen Nähten platzte. Sie bestellte bei einer kleinen rundlichen Dame mit norddeutschen Dialekt ein kleines Frühstück, bestehend aus verschiedenen Brötchensorten und Aufschnitt, was sie trotz ihrer kräftigen Statur in einer Blitzgeschwindigkeit zusammenstellte und gleichzeitig so liebevoll auf dem Tablett drapierte, dass es Emilia vor Erstaunen die Sprache verschlug. Summend puderte sie zu aller letzt ein Herz aus Kakaopulver auf den Cappuccino und servierte ihn mit einem authentischen Lächeln, wovon sich jede Kellnerin in Berlin hätten eine Scheibe abschneiden können. Emilia erwidert diese Geste mit einem dankbaren und zufriedenen Gesichtsausdruck. Es war hier wie in einer Parallelwelt, wo alle nett und freundlich miteinander umgingen, Daran könnte sie sich gerne gewöhnen.„Guten Appetit!, flötete die Kellnerin ihr zu.„Vielen lieben Dank!", zwitscherte sie ebenso fröhlich zurück.Emilia ergatterte einen der raren Plätze am Fenster, wo gerade ein älteres Ehepärchen aufstand und es ihr freundlich anbot. Zufrieden nahm sie auf den bequemen Korbstühlen mit den flauschigen Kissen Platz und breitete ihr Frühstück vor sich aus. Sowas hatte sie sich schon ewig nicht mehr gegönnt und dabei frühstückte sie so gerne und ganz ausgiebig mit den verschiedensten Leckereien auf dem Tisch ausbreitete. Sie biss gerade zufrieden in ein frisch belegtes Brötchen, als sie ein Gespräch aufschnappte.„...am Südstrand von zwei Touristen?", hörte sie eine Dame hinter sich erzählen. Sie versuchte so diskret und leise zu sprechen, aber da sie dicht an dicht saßen, konnte Emilia nicht umhin jedes Wort zu hören. „Ja, ein Pärchen ist wohl bei einem Abendspaziergang den ganzen Weg über den Strand zum Wasser gegangen und da haben sie sie entdeckt. Laut Polizei lagen sie da wohl schon eine ganze Weile."Polizei? Jetzt spitzte Emilia die Ohren. Vielleicht war Myr doch nicht so sicher, wie Keno bekräftigte. So angeregt wie die beiden Damen darüber schwatzten schien es der neuste Inselklatsch zu sein und Emilia musste natürlich wissen, was hier vor sich ging. Ein bisschen wollte sie ja noch hier bleiben.„Sie wurden anscheinend zusammen mit der Flut angespült. Die Frau hat sie wohl zuerst gesehen und schrie laut auf. Das muss ein furchtbarer Anblick gewesen sein, wie sie da ganz blass und aufgedunsen lagen. Die Frau ist wohl immer noch unter Schock."„Ach du grüne Neune! Was für eine schreckliche Tragödie!", empörte sich eine der Damen offensichtlich betroffen. „Das zeigt mal wieder, wie kurz das Leben sein kann. Beide kannten Myr wie ihre Westentasche und trotzdem haben sie das Unwetter nicht kommen sehen."„Wissen die Kinder schon Bescheid?", fragte eine der Damen, die andere.„Ja, Magit hat beide angerufen. Die Beerdigung ist nächstes Wochenende. Beide wollten so schnell wie möglich kommen. Kann sein, dass sie schon da sind."Ein tiefes seufzen durchfuhr eine der Damen, „Die armen Dinger. So jung und müssen schon so einen großen Verlust durchleben."„Wohl wahr, wohl wahr. Ganz Myr ist in Aufruhr und wird dabei sein, um Agnes und Rebin die letzte Ehre erweisen. Das Begräbnis findet oben an der Kirche statt. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie beide selbst noch Kinder waren und jetzt sind sie nicht mehr bei uns."„Warum sind sie nur herausgefahren?"„So viel ich weiß hatte Rebin eine Überraschung zu ihrem Hochzeitstag schon Monate vorher geplant und wollte es wegen ein bisschen Regen nicht absagen. Mit Zelt und Picknickkorb sind sie im kleinen Motorboot zur Insel gefahren."Wieder hörte Emilia ein tiefes Seufzen und dann trat Stille ein. Emilia beobachtete, wie beide aufrichtig bestürzt das Café verließen. Sie stellte sich vor, was wohl passiert sein mochte und bemerkte wie unbedeutend ihre Probleme dagegen schien. Mit dem Tod wurde sie bisher nur einmal konfrontiert und hatte keine Ambitionen das noch einmal zu durchleben. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Verlustängste wohl der Grund waren, warum sie sich gegenüber Menschen so verschloss, um sich so zu schützen. Meine Güte, wie konnte man nur so kompliziert und verkorkst sein, rügte sie sich selbst und frühstückte im Gedanken an die Geschichte der zwei älteren Damen zu Ende. Sie spazierte nach dem Frühstück noch eine Weile durch den winzigen Stadtkern, insofern man die eine Straße mit Läden so nennen konnte und entdeckte nur wenige Schritte von der Bäckerei entfernt einen Buchladen, der ihr zuvor noch nie aufgefallen war, weil er sich in eine winzige Nebenstraße zur Einkaufsstraße befand. Sie konnte noch nie einen Bogen, um Buchläden machen und Stunden darin verbringen. Eine Klingeln über der Tür kündigte ihren Besuch an und ein älterer Mann mit Brille begrüßte sie freundlich. Emilia wanderte zwischen den großen rustikalen Regalen entlang und streifte bedächtig über die Buchrücken einiger sehr dicker Romane, die sie so gerne las. „Suchen sie etwas bestimmtes?", näherte sich der Buchhändler von der Seite, was sie etwas erschreckte.„Ach, ich stöbere nur.", erwiderte sie freundlich, während sie den Blick schon auf die vielen deckenhohen Bücherregale geheftet hatte. Sie würde sich ein paar Schmöker für die einsamen Abenden in ihren gemütlich Strandhaus aussuchen. Bei dem Gedanken wie sie gemütlich auf der Couch eingekuschelt bei einer Tasse dampfenden Tee ein Buch las, musste unwillkürlich daran zurückdenken, wie sie früher mit ihrer Oma bei Tee und selbst gebackenen Plätzchen in der Gartenlaube gesetzt hatten, um stundenlang ihrer gemeinsamen Leidenschaft nachzugehen bis sie schließlich in der warmen Stube landeten, Schnittchen zum Abendbrot aßen und Nachrichten schauten. Diese Erinnerungen wird sie wohl nie vergessen. Vielleicht sollte sie sich auf dem Rückweg im Inselladen ein paar Kekse kaufen; sie selber zu backen würde sie wohl lieber nicht riskieren, denn das Strandhäuschen abzufackeln, war das letzte, was sie jetzt noch brauchte. Sie wählte zwei Bücher aus und bezahlte sie an der Kasse. „Eine wirklich gute Auswahl.", kommentierte er und deutete auf eines der beiden Bücher, „Das hier hat mir besonders gut gefallen."„Ehrlich? Sie lesen Katherine Webb?"„Aber natürlich, ich habe jedes Buch in diesen Laden gelesen.", zwinkerte er ihr lachend zu und sie mochte diesen freundlichen alten Mann jetzt schon. „Das ist doch mein Job!"An der Wand erblickte sie ein Plakat, das für ein Strandfest hier auf Myr warb. Der älteren Mann folgte über die runden Gläser seiner Brille blickend ihren Blick.„Kommen Sie auch?"„Ach, ich weiß nicht.", sagte sie etwas zu schnell, woraufhin er sie aufmerksam anschaute und lächelte.„Dann verpassen sie aber etwas.", sagte er amüsiert und sie musste sich den alten Mann auf einen Strandfest vorstellen. „Und die hier...", er deutete auf die zwei Bücher, „..werden ganz sicher auf sie zuhause warten."Bei den Versuchen sie zu dem Strandfest zu überreden, musste sie Lachen und gab schließlich nach.„Also, wenn Sie gehen, dann komm ich natürlich auch."„Das lasse ich mir doch nicht entgehen.", sagte er keck. „Ich bin übrigens Tore, Tore Larsson."„Emilia, Emilia Görlitz, es freut mich sehr.", stellte sie sich vor.„Die Freude ist ganz meinerseits.", sagte er höflich.„Dann bis heute Abend, Tore.", verließ sie winkend und fröhlich das Geschäft und folgte weiter der Einkaufsstraße Richtung Meerpromenade, von wo aus sie wie gewohnt einen weitere Schleichweg zurück zu ihrem Strandhäuschen nehmen würde. Dabei fiel ihr diese Frau auf, die in einem olivgrünen Parker gehüllt auf einer Bank saß und ins Leere zu starren schien. Ihr honigblondes Haar tanzte in der frischen Meeresbrise, während die Wellen sanft gegen die Brandung schlugen. Sie saß völlig regungslos da und ihr Gesicht verzog keine Miene und einen Augenblick wunderte sich Emilia, ob sie überhaupt echt war oder zu einer Statue versteinert war. Sie musste an die Geschichte denken, die sie eben noch im Café gehört hatte und fragte sich, ob es die Frau war, die die Leichen gefunden hatte oder einer der Familienangehörigen? Außer ihr schien niemand sonst sie zu bemerken oder ließen ihr diskret einen respektvollen Abstand. Emilia fröstelte bei den Anblick und machte auf den Absatz kehrt. Doch noch auf dem Heimweg konnte sie nicht aufhören an die Geschichte und an die Frau zu denken. Wer war diese Frau?

Ein SommertraumWhere stories live. Discover now