Die Hafenpromenade verwandelte sich binnen weniger Minuten in einen weißen Sandstrand, der von einem glitzernden türkis blauen Meer umgeben war und an die traumhaften Strände in der Karibik erinnerte. Bei dem Anblick der vielen blau-weiß gestreiften Strandkörbe musste Emilia schmunzeln. Ein junger Mann war eifrig dabei diese für das Tagesgeschäft vorzubereiten und wurde immer wieder von Gästen unterbrochen, die sich regelrecht einen Kampf um die besten Plätze lieferten. Soeben war ein älterer etwas korpulenter Mann aufgetaucht, der mit den Geldscheinen ungeduldig herumfuchtelte und bereits puterrot angelaufen war, weil der junge Mann seine ganze Aufmerksamkeit einer jungen Familie schenkte, die Hilfe dabei benötigten den Korb aufzuschließen. Seiner Frau, die ein paar Meter abseits mit einem Bollerwagen im Schlepptau die ganze Szene beobachtete, war sichtlich peinlich berührt und versuchte ihren Mann kleinlaut zu zügeln. Doch ehe Emilia herausfinden konnte, wie die Misere ausging, waren die Menschen schon wie kleine Punkte am Horizont verschwunden, während sie immer weiter nördlich fuhren. „Ist een echter Jeheimtipp.", erklangen Emilia wieder die Worte der Kellnerin im Ohr und hatte so das Gefühl, dass sie recht behalten würde. Die Morgensonne, die sich allmählich zur Himmelsmitte schob, schien ihnen großzügig ins Gesicht und mit der kühlen salzigen Brise, die durch die offenen Fenster hinein wehte, wirkte es hier viel kühler als auf dem Festland und vor allem viel angenehmer als im heißen stickigen Berlin. Sie sog die frische Luft so tief ein wie sie konnte und schloss die Augen, wodurch sie sich augenblicklich entspannte und ein Moment des Friedens genoss. Ganz weit weg vom Stadtgetümmel und Stress, der sie vor nicht mal einen Tag noch fest im Griff hatte. Es war wie eine Befreiung aus ihrem selbst erbauten Gefängnis und sie fühlte genau, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Erinnerung daran, wie sie Lisa ihre Meinung gesagt und ihren Job gekündigt hatte, stimmte sie nicht nur glücklich, sondern erfüllte sie auch mit Stolz. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Keno schien ihren Stimmungswandel zu bemerken und nutzte die Gelegenheit ein Gespräch in die Gange zu bringen.„Schön, nicht wahr?"„Wirklich wundervoll und so friedlich."Er nickte zustimmend. „Ich könnte mir nicht vorstellen, woanders zu leben. Schau mal da drüben, siehst du das?"Mit dem Finger deutete er auf etwas in der Ferne und Emilia kniff ihre Augen zusammen, um zu erspähen worauf er zeigte. „Was ist dort?", fragte sie schließlich.„Auf der Sandbank da drüben entspannt sich eine Seehundkolonie."„Ahhh!", stieß sie mit einer fast kindlichen Begeisterung triumphierend aus, als sie eines der Tiere entdeckte und klatschte begeistert in die Hände. Wie gerne hätte sie jetzt ein Fernglas, um einen besseren Blick zu erhaschen. Tatsächlich hatte sie noch nie welche in der freien Wildbahn gesehen, sondern nur im Zoo oder auf Bildern. Die Seehunde schienen so entspannt und zufrieden. Ihre einzige Sorgen bezogen sich darauf, wann und was sie als nächstes fressen würden. Wie schön es doch wäre einfach nur in den Tag hineinzuleben und die Sonnen genießen zu können, wann immer sie wollten. „Die haben ein Leben.", seufzte sie sehnsüchtig und so leise, dass er sie fast nicht gehört hätte. Er schielte neugierig zu ihr rüber und hoffte, dass sie den Satz fortführte. Doch sie blickte nur stumm und im Gedanken versunken der Seehundkolonie nach, sodass er sie nicht stören wollte, indem er noch mehr nachbohrte und legten den restlichen Weg schweigend zurück.„Wir sind da", unterbrach Keno die Stille, als sie am nördlichsten und abgelegeneren Ende der Insel angelangten, die in greifbarer Ferne zum Leuchtturm lag. Sie stiegen aus dem Auto und Emilia nahm das erste Mal seit Minuten wieder ihre Umgebung war. Ihr stockte der Atem als sie eine Reihe farblich abgestimmter bunter Holzhäuschen erblickte, die alle samt einzeln standen und zu einem angrenzenden Strand führten. Sie hatte mit irgendein herunterkommenden Apartment oder Zimmer gerechnet, aber nicht mit sehr neu wirkenden Strandhäusern in so einer Lage.„Gefällt es dir?", entgegnete Keno und versuchte seine Aufregung zu verbergen. „Gefallen ist noch untertrieben. Es ist atemberaubend!", erwiderte sie begeistert, „Wie kommt es, dass niemand es gebucht hat?"„Tja, es steht genau genommen noch nicht zur Verfügung.", grinste er, „Die Häuser wurden gerade erst erbaut und bin gerade dabei letzte Feinarbeiten vorzunehmen, aber das hier...", er deutete auf ein rostrotes Häuschen mit einer hellblauen Tür, „...das hier war mein Musterhaus und ist bezugsfähig. Bei den anderen fehlt noch die Innenausstattung und wir wollten warten bis alle fertig sind, bevor wir sie vermieten."„Das heißt, du bist so etwas wie Architekt?", mutmaßte Emilia.„Nicht ganz", schmunzelte er, „Ich bin Bauleiter und begleite den ganzen Entstehungsprozess an der Baustelle. Von den Architekten lassen wir uns im Vorfeld die Baupläne anfertigen, damit wir keine Probleme mit dem Bauamt bekommen, aber auch die prüfe ich vorher. Die Innengestaltung ist eine Art Hobby von mir." Sie musterte ihn mit einer neu gewonnenen Faszination und ertappte sich bei dem Gedanken, dass er zumindest äußerlich das Klischee eines Bauleiters erfüllte mit seinem Bart und den langen zu einem Knoten gebundenen dunkelblonden Haaren. „Wow", entfuhr es ihr, „Das ist echt beeindruckend. Ich finde es hat etwas total befriedigendes, wenn man etwas nach seinen Vorstellungen erschafft und sein Werk hinterher betrachten kann.", kommentierte sie anerkennend. Er nickte zustimmend.„Das hat mich schon als kleiner Junge fasziniert.", gestand er sichtlich erstaunt, dass sie seine Gedanken zu lesen schien.Ehrfürchtig strich Emilia über das hellblaue Geländer, das mit bunten Geranien in Blumenkübeln geschmückt war, als sie ihm die drei Stufen hinauf zur Veranda folgte und versuchte sich den großen Mann mit den breiten Schultern als kleinen Jungen vorzustellen. Unter der Matte zog Keno einen Schlüssel hervor, was Emilia zum Schmunzeln brachte. Was für ein originelles Versteck, dachte sie belustigt und er schien es zu bemerken.„Was ist so lustig?", fragte er grinsend und musste zugeben, dass ihr Lächeln ihm immer mehr gefiel. Er war schon ganz gespannt, welche Facetten er wohl noch an ihr entdecken würde, wenn sie sich erstmal so richtig auf Myr eingelebt hatte.„Anscheinend ist es hier wohl sehr sicher?", fragte sie auf sein Geheimversteck deutend. „Du musst dir jedenfalls keine Sorgen machen, dass du nachts überfallen wirst oder dass hier jemand einbricht."„Das klingt doch nach einer tollen Abwechslung zu Berlin.", entgegnete sie sichtlich zufrieden, die sich definitiv noch daran gewöhnen musste nicht mehr in der Großstadt zu sein, sondern auf einer sicheren Insel, wo man sogar getrost seinen Schlüssel unter einer Fußmatte liegen lassen konnte.Das Innere des Strandhäuschens war schlicht und elegant eingerichtet. Die Räume waren zwar klein, wirkten aber keineswegs gedrungen, sondern eher gemütlich und zum Verweilen einladend. Es hatte alles, was das Herz begehrte. Die kleine Küche mit Meerblick war bereits mit Kochutensilien, Geschirr und Elektrogeräten ausgestattet und verfügte sogar praktischerweise über eine Waschmaschine. Überall an den Wänden befanden sich Bilder von der Insel, maritime Dekoration, wie kleine Anker, Muscheln oder Fischernetze, die geschmackvoll angeordnet waren und trotzdem nicht zu überladen wirkten, sondern vielmehr Akzente setzten und so den Räumen Leben einhauchte. Stoffe und Tapeten waren harmonisch in typisch maritimen blau-weiß gestreifte Muster abgestimmt. Keno hatte offensichtlich ein gut durchdachtet Konzept entwickelt und definitiv einen guten Geschmack, so viel stand fest. Auf dem ersten Blick hätte sie den robusten Mann so viel Liebe zum Detail gar nicht zugetraut und wieder einmal erstaunte er sie. Die große Fensterfront im Wohnzimmer zog sie magisch an und offenbarte ihr einen sagenhaften Blick auf das Meer, wo sich gerade ein paar Möwen um einen Leckerbissen stritten und dabei höllischen Lärm machten. Sie konnte sich schon gut vorstellen, wie sie die Tage auf der Couch eingewickelt in den bereitliegenden Kuscheldecken entspannte und vielleicht mal wieder ein Buch las. Das hatte sie schon lange nicht mehr.„Soll ich dir deinen Koffer hochbringen?", hörte sie seine Stimme aus dem Flur zu ihr herüber dringen und sah ihn lässig angelehnt am Türrahmen. Anscheinend beobachtete er sie mit seinen freundlichen und trotzdem eindringlichen blauen Augen bei ihrer Erkundungstour durch das Strandhaus. Sicher war er einfach nur neugierig, wie sein Werk bei Fremden ankam. „Oh, ja, das wär total nett.", folgte sie ihm die Treppe hinauf in den ausgebauten Dachboden, der sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte und ein gemütlich Schlafzimmer verbarg. Sie schaute den knapp Zweimetermann Mann dabei zu, wie er ihren Koffer halb bückend in eine Ecke vor dem Einbauschrank absetzte und ein paar Decken und Kissen für das Bett heraus kramte. „So, das ist jetzt dein Reich", übergab er ihr die Schlüssel und gab ihr seine Nummer, „Falls du etwas brauchst, ruf mich gerne an. Ansonsten laufen wir uns bestimmt das ein oder andere Mal über den Weg. Myr ist ja nicht ganz so groß und außerdem arbeite ich bestimmt die nächsten Tage mal an den Häusern nebenan."„Danke für alles.", sagte sie mit einem aufrichtigen herzlichen Lächeln, was sein Herz erwärmte. Wie konnte sie ihm je für diese nette Tat danken? Überhaupt wurde sie noch nie von einem Fremden so gastfreundlich empfangen und konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. „Gern geschehen. Bleib so lange du willst.", erwiderte er ebenso herzlich wie sie es gemeint hatte und unterstrich es mit einem breiten Grinsen und entblößte wieder seine Lachfältchen um die Augen.„Ach, eins noch.", eröffnete er ihr, „Es gibt hier noch kein Wlan. Der Typ, der hätte Glasfasern verlegen sollen, ist krank geworden, weshalb wir das ein kleines bisschen nach hinten verschieben müssen."Emilia lachte fröhlich und winkte ab, „Ach, wenn es nur das ist!" „Na dann, wünsche ich einen schönen Urlaub.", verabschiedete er sich und lief die Straße entlang zu seinem Auto. Emilia beobachtete ihn noch ein kleines bisschen wehmütig, bevor sie die Tür verschloss und sich dagegen lehnte.Endlich Urlaub. Das klang wie Musik in ihren Ohren. Ihr letzter Urlaub war schon eine ganze Weile her und sie machte sich nicht die Mühe nachzurechnen wie lange. Das würde sie bestimmt nur frustrieren und das konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Schließlich wollte sie jetzt und hier den Moment genießen und nicht Versäumtes hinterher Trauern.Nein, sie würde ihren Urlaub in vollen Zügen genießen.
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Ein Sommertraum
RomanceEmilias mühevoll erarbeitete Karriere erlebt einen unerwarteten Wendepunkt, sodass sie kurzerhand ihre sieben Sachen packt und auf die Ostseeinsel Myr reist. Doch kaum auf der Insel und völlig erschöpft, muss sie feststellen, dass alle Unterkünfte r...