So langsam zog ein frischer Herbstwind über die Insel und auch wenn sich so gut wie jeder schon in eine kuschelige Herbstjacke einpackte, machte Anea die Kälte überhaupt nichts aus. Als sie damals Hals über Kopf mit ihren Vater auf Myr zog, damit dieser das Restaurant am Hafen eröffnen konnte, war sie zunächst überhaupt nicht begeistert. Schließlich bedeutete dies auch, dass sie all ihre Freunde und gewohnte Umgebung hinter sich lassen musste. Doch was war damals noch so wie es einmal war? Seit ihre Mutter sie und ihren Vater in einer Nacht und Nebel Aktion einfach so verließ, hatte sich alles schlagartig geändert und sie, als gerade mal 5 jähriges Mädchen, hatte es überhaupt nicht realisieren und verstehen können, warum ihre Mutter so plötzlich nicht mehr da war. Eine Frage auf die nicht mal ihr Vater eine Antwort wußte und wenn er sie wußte, so hatte er sich mehr als gut darauf verstanden dieses Geheimnis für sich zu bewahren. Manchmal wünschte Anea sich, dass ihre Mutter einfach Tod wäre, weil es alles irgendwie einfacher gemacht hätte, als nur wild darüber spekulieren zu können und so jedes Mal aufs Neue ihre Geschichte vor anderen lang und breit ausbreiten zu müssen. Wäre sie Tod würde niemand mehr genauer nachfragen, sondern sich in ein andächtiges Schweigen ausbreiten und nur verständnisvoll nicken, vielleicht noch ein Es tut mir Leidmurmeln und damit wäre die Sache gegessen. Doch so durchlöcherten sie jedes Mal Fragen über Fragen, die sie sich schon selber bestimmt mehr als tausend mal gestellt hatte und trotzdem keine genaue Antwort wußte.Es gab eine Zeit, in der sich Anea die Schuld für das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter gab. Vielleicht war sie nicht artig genug zu ihr gewesen oder hatte sich zu wenig Mühe gegeben? Vielleicht hätte sie ihr Zimmer öfters aufräumen sollen oder war es die Schokolade, die sie heimlich aus der Süßigkeitenschublade geklaut hatte? Nacht um Nacht grübelte sie und weinte sich dann in den Schlaf. Heimlich und ganz leise, weil sie nicht wollte, dass ihr Vater es mitbekam. Je älter sie wurde und bei ihren Freunden eine intakte, heile Familie vorfand, desto mehr zog sie sich zurück und fühlte sich unendlich dolle schuldig für ihren Verlust, den nicht nur sie, sondern auch ihr Vater ertragen musste. Ihr Vater beobachtete die Veränderung missmutig und wenn sie ihm eines Zugute halten konnte, dann dass Oskar Martin kein Mann war, der sich bemitleidete und über das Leben schimpfte. Nein, er war ein Mann der Tat und immer für eine Überraschung gut. Trotz vieler Verluste und Entbehrungen ließ er sich nicht die Butter von Brot nehmen und sprudelte vor Lebenslust. Ein Restaurant zu übernehmen war schon immer sein Traum, auch wenn er zugegeben kein wirklicher Koch war, sondern gelernter Bankangestellte, der sich seinen Weg bis fast ganz nach oben hochkämmte, um für sich und sein kleines Mädchen zu sorgen. Die Entscheidung das Haus zu verkaufen und einen ganz neuen Start zu wagen, war das beste, was ihnen hätte passieren können, auch wenn es für Anea nicht ganz einfach war zu dem Verschwinden ihrer Mutter, auch noch komplett ihre Wurzeln zu verlieren. Wie sich aber herausstellte, war sie wie für das Inselleben gemacht. Die Leute hier begegneten ihr freundlich, warm und herzlich. Schnell hatte sie neue Freunde gefunden und sich an ihre neue Heimat gewöhnt. Nach der Schule half sie dann ihren Vater im Restaurant und auch das florierte schnell. Nicht weil Oskar der perfekte Gastronom war, sondern weil er ein unglaublich geschickter Unternehmer war. Sein Restaurant war hausgemacht auf Myr und genauso behandelte er es auch, indem er nur Leute von der Insel einstellte und dadurch sehr viel Zuspruch und Unterstützung fand. Als dann noch die örtlichen Fischer auf ihn zukamen und er täglich frischen Fisch zu einem fairen Preis einkaufen konnte, war auch die letzte Hürde genommen. Der Rest war buchstäblich Geschichte und sie brauchten dringend ein Happy End.Der Traum, auch mal etwas eigenes aufzubauen, entstand vor allem aus der Bewunderung, die Anea über all die Jahre für ihren Vater aufgebaut hatte und wurde immer stärker. Jetzt, war sie so kurz davor ihren Traum in die Tat umzusetzen und strotzte vor geballter Spannung, dass es sie fast von Innen in tausend Stücke riss. Mit geballten Fäusten und einem verschmitzten Lächeln starrte sie nun schon seit ewigen Minuten auf den alten, fast zerfallenen Laden mit der hübschen Türkisen Fassade, dessen Farbe über die Jahre abgeblättert war. Auch die große Fensterfront müsste erneuert werden, denn im Laden zog es fürchterlich und würde niemals an einem kalten Wintertag Wärme und Geborgenheit spenden so wie sie es sich in ihrer Phantasie ausmalte. Ohja, sie sah sich schon wie sie in der kleinen Küche süße Köstlichkeiten kreierte und der Duft von frisch gerösteten Kaffee die Luft erfüllte. Sie würde mit rustikalen, hellen Möbeln im Vintage den Raum mit einer Gemütlichkeit füllen, der dazu einlud hier Zeit zu verbringen, in ihrem eigenen Café. Der Gedanke löste in ihr einen zufriedenen Schauer aus und eine Gänsehaut überzog ihre Arme, was ganz sicher nicht an den frischen Windstoß lag, der gerade über das Meer rauschte und eine Welle in der Ferne zum Brechen brachte. Sie bemerkte eine Gestalt hinter sich und drehte sich in freudiger Erwartung um. Lijan nahm sie zärtlich in den Arm und küsste sie auf die Stirn. Ja, sie war sich seiner Charme durchaus bewusst und war auch nicht blind oder naiv. Es war ihr nicht entgangen, dass er seit seiner Rückkehr auf Myr nichts anbrennen ließ und sie wahrscheinlich nun sein nächstes Opfer sein würde. Doch das störte sie nicht wirklich. Schließlich wollte sie vom ihm genauso wie er etwas von ihr. Sie verfolgte ein Ziel und würde sich um Nichts in der Welt davon abringen lassen. Auch wenn Anea in der Gastronomie aufgewachsen war und im Schlaf ein eigenes Café führen konnte, so hatte sie absolut keine Ahnung von Immobilien, Kredite und Investment. Natürlich hätte sie auch ihren Vater fragen können, der sich besten in diesem Bereich auskannte, wie in seiner Westentasche. Doch wollte sie ihn auch nicht mit ihren Plänen belasten und schon gar nicht während der Hauptsaison. Sie wußte, dass er sie sofort finanziell und mit Rat und Tat unterstützen würde, doch dieses eine Mal wollte sie es ganz alleine schaffen. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt realisiert hatte, dass sein kleines Mädchen mittlerweile 26 und eine junge Frau war, die durchaus in der Lage war, auf eigenen Beinen stehen konnte und so löste er mit seiner Fürsorge nur noch mehr ihren Wunsch nach Selbstständigkeit aus. Diese eine Sache wollte sie alleine schaffen. Das nahm sie sich ganz fest vor. Am besten so, wie sie es von ihren Vater gelernt hatte, mit guten Kontakten und Lijan war so ein guter Kontakt.Seiner Familie gehörte praktisch halb Myr und er selber hatte in dem Bereich sehr viele praktische Erfahrung gesammelt. Außerdem würde er nicht direkt zu ihrem Vater rennen, bis sie sich selber dazu entschließen würde, diesen ohne Umschweife vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Aufmerksamkeit, die er ihr dabei schenkte, war schlicht und einfach ein positiver Nebeneffekt, den sie mehr genoss, als sie sich selber eingestehen wollte. Nicht, dass sie direkt mit ihm bei nächster Gelegenheit in die Kiste hüpfen würde. Nein. Auf so etwas hatte sie gar keine Lust und schon gar nicht wollte sie ihm das geben, was er wollte. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, würde er sie sicher fallen lassen wie eine heiße Kartoffel und so wie er es mit allen anderen Frauen bereits getan hatte. Niemals würde sie sich von Lijan Jenson das Herz brechen lassen.Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass sie ihn unglaublich gut aussehend fand und jetzt wo er sie ganz nah an sich herangezogen hatte, sog sie seinen männlichen Duft tief in sich ein und konnte nicht verhindern, dass ihr ein Seufzen entfuhr. Sie hatte durchaus schon Beziehungen gehabt. Naja, okay, genau genommen war es eine, worauf eine Reihe falscher Frösche folgte, die sie in der Hoffnung geküsst hatte, dass sie sich als Traumprinz entpuppen würden. Doch kaum war die erste Meinungsverschiedenheit ausgebrochen, so waren die meisten schnell wieder verschwunden. Zu kompliziert, nannten sie es und Anea war froh sie los gewesen zu sein, bis sie zum Äußersten gegangen waren. Was Anea wirklich wollte, war den einen für immer und dafür war sie bereit zu warten. Dass Lijan nicht Mr. Right, sondern eher Prince Charming war, war sie sich nur zu gut bewusst, fand aber das gegen ein bisschen Liebe und Nähe nichts einzuwenden war. Während sie dort so schmusten sauste ein Auto an sie vorbei, hupte fröhlich und schreckte sie auf. Ihr zukünftiges Café befand sich eher in einer versteckten Seitenstraße, auf einem kleinen Hügel, der durch die schmalen Gassen einen wunderbaren Blick zum Meer preisgab und auf der Autos unüblich waren. Seltsam, dachte sie und blickte dem kleinen roten Flitzer hinterher. Anea konnte nicht erkennen, wer es war und auch das Auto konnte sie niemanden genau zuordnen. Sie bemerkte wie Lijan die Stirn runzelte und ärgerlich aufstöhnte.„Was ist?"„Ach nichts. Mach dir keine Gedanken."„Für nichtssiehst du aber ganz schön genervt aus."„Sagen wir mal so, ich habe da so eine böse Vorahnung."„...die da wäre?"„Du gibst auch nie auf?", sagte er leicht belustigt.„Darauf kannst du aber wetten. Los spuck es aus.""Maibrit.", grummelte er.„Ist sie zurück?"Anea zog die Augenbrauen hoch, auch sie war nicht sonderlich erpicht darauf, dass man sie hier kuschelnd mit dem Insel Sunny Boy sah und so das Thema für den nächsten Inselklatsch wurde. Wenn es tatsächlich Maibrit war, die da gerade an sie vorbei rauschte, löste es bei ihr eher gemischte Gefühle aus. Sie mochte Maibrit. Sie waren zusammen zur Schule gegangen und schon immer enge Freundinnen, bis diese zum Studieren von der Insel gegangen war und sie sich durch die Entfernung aus den Augen verloren haben. Klar, hatten sie sich jedes Mal gesehen, wenn sie wieder zurück war, doch irgendwann verschloss Maibrit sich und ihre tiefen Gespräche wurden zunehmend oberflächlicher Art. Als ob irgendwas passiert war, worüber Maibrit nicht sprechen wollte und stattdessen jegliche Möglichkeit zu tief zu ihr vorzudringen von vorne hinein unterband. Anea akzeptierte es und auch dass ihre Freundschaft zarter wurde. Sie war niemand, der andere in unangenehme Situationen drängte. Das verrückte daran war jedoch, dass Maibrit nie ihre Fröhlichkeit verlor und es anscheinend niemanden außer ihr auffiel, wie verändert sie war. Im Gedanken versunken blickte sie in die Richtung, wo vorhin noch das Auto war.„Hey, hey, mach dir keine Gedanken, okay?", Lijan zog sanft ihr Gesicht in seine Richtung, damit sie ihn ansah.„Du hast recht.", stimmte sie zu, „Es gibt wichtigeres zu besprechen, wie zum Beispiel, wie aus dem hier...", sie deutete auf das ziemlich heruntergekommene Gebäude vor ihnen."...mein Café wird."Ein überglückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht und verzauberte dadurch Lijan, ohne es auch nur zu bemerken.
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Ein Sommertraum
RomanceEmilias mühevoll erarbeitete Karriere erlebt einen unerwarteten Wendepunkt, sodass sie kurzerhand ihre sieben Sachen packt und auf die Ostseeinsel Myr reist. Doch kaum auf der Insel und völlig erschöpft, muss sie feststellen, dass alle Unterkünfte r...