Kapitel 10 Abendessen bei den Jensons

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Leider war Emilia nirgendwo zu sehen, stellte Keno ein wenig enttäuscht fest, als er in seinem Auto gerade die Strandhäuser passierte, die genau genommen nicht wirklich auf dem Weg lagen und vermutete, dass sie wohl noch schlief. Kein Wunder. Der gestrige Abend und die ausführliche Schilderung ihrer Geschichte mussten sie erschöpft haben. Er konnte sich noch bildlich an jedes Detail ihrer Erzählungen erinnern und an ihr niedliches Gesicht, wenn sie jede ihrer Gefühle Ausdruck verlieh. Was für eine verzwickte Situation, dachte Keno bei sich und überlegte seither fieberhaft, ob ihm eine passende Lösung dazu einfiel. Er wollte ihr helfen. Sogar mehr als das. Er wollte für sie da sein und sich um sie kümmern. Irgendwas würde ihm sicher einfallen. Jedenfalls konnte er es kaum abwarten, sie nach dem Essen abzuholen und ihre Gesicht zu sehen, wenn er ihr seine Überraschung präsentierte. Darauf freute er sich schon wie ein kleines Kind. Seine Finger klopften aufgeregt auf dem Lenkrad zu einem alten Song, den sein Vater immer gehört hatte, als er noch klein war und ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, während er noch einmal seinen Kopf in alle Himmelsrichtungen streckte, um sich wirklich zu versichern, dass sie nirgendwo auf zu spüren war. Unbekümmert fuhr er weiter Richtung Leuchtturm. Wie jeden Sonntag bereitete sich Keno für das traditionelle Mittagessen bei seinen Eltern vor, das wie gewöhnlich um Punkt 12 Uhr stattfand und zu dem meist die ganze Familie eingeladen war. Als Teenager fand er diese Treffen immer nervig und hätte sich besseres vorstellen können, als seine Sonntage im Kreise der Familie zu verbringen, aber im Laufe der Zeit hatte er diese Treffen sehr zu schätzen gelernt, vor allem während einer der schwersten Momente seines Lebens, als diese sonntägigen Treffen sein einziger Halt waren und er ohne diese vermutlich verrückt geworden wäre. Seine Mutter, Magit, zauberte jedes Mal diverse Köstlichkeiten und freute sich wie ein kleines Kind an Weihnachten ihre Familie unter einem Dach zu haben. Im Gedanken konnte er schon vor sich sehen, wie diese kleine mütterliche Frau mit ausgebreiteten Armen auf ihn zusprang, was ihre Locken aufgeregt auf und ab wippen ließ. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen.Manchmal half ihr Tante Ava, die mit Margits Bruder, Tore, verheiratet war. Es war jedes Mal ein Bild für die Götter wie die zwei Frauen in der Küche herumwerkelten und aufgeregt über den neusten Inselklatsch tratschten, während die Männer draußen bei einer Flasche kühlen Bier den Grill anfeuerten und eher schweigend als schwatzend in die Flammen blickten. Tyra und Anders Lyndberg, die Besitzer des Tante Emma Ladens in der Hafenstraße sowie Rebin und Agnes Sandberg komplementierten die Runde. Sie alle kannten sich schon ewig, waren gemeinsam zur Schule und durch Dick und Dünn gegangen. Gerade deshalb hinterließ der Tod der engen Freunde eine tiefe Traurigkeit, die nun auch ins Hause Jenson einzig. Magit, die sich nun wo Rebin und Agnes nicht mehr waren für ihre Kinder, Janne und Thom, verantwortlich fühlte, nahm schweren Herzens hin, dass die beiden Geschwister lieber im Familienhaus schliefen, als bei ihnen unterzukommen und was die Organisation der Beerdigung anging, hätte Magit am liebsten ganz das Ruder übernommen. Doch so richtig was vormachen konnte Magit Jensen niemanden etwas. Sie war ein offenes Buch und trug ihre ganzen Gefühle praktisch auf der Zunge. Es war also ganz offensichtlich, dass sie der Verlust der beiden geliebten Freunde schmerzte und sie sich, statt um sich selber und ihre Trauer zu kümmern, lieber andere umsorgen wollte, um sich so abzulenken. Da sie das im Moment nicht konnte, konzentrierte sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Kinder und wie Keno nun feststellte, auf den Garten. Die Auffahrt zum hübschen großen und leicht herrschaftlich anmuteten aus, das auf einen Hügel der Insel thronte und eine atemberaubende Aussicht zum Meer preisgab, war umgeben von einer ordentlich zurecht gestutzten Hecke. Inmitten des kreisrunden Vorhofs befand sich ein wunderschönes Blumenmeer, welches nicht nur farblich abgestimmt war, sondern dessen Boden auch frei von jeglichen Unkraut war und frisch aufgelockert wurde. Am Torbogen neben dem Haus, der zum Garten führte, begrüßte ihn eine Hecke aus Zierrosen, die ordentlich um das drahtige Gerüst wucherten. Als er auf der großen Einfahrt einbog, erspähte er ein rotes Auto, dass er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Genau genommen seit knapp 3 Monaten nicht mehr. Es schien, als hätten sie heute einen ganz besonderen Gast und wenn er richtig nachgerechnet hatte, dann blieb dieser wohl eine ganze Weile. Wenn nicht sogar für immer. Aufgeregt schloss er die Tür seines Auto mit einem leisen Knall und joggte zur Tür. Der Tag konnte nicht besser werden. Seine Eltern hatten aber auch immer ein Talent dafür gute Überraschungen, wie einen Schatz zu hüten und diesen nicht zu lüften, ehe es soweit war. Ein aufgeregtes Geschnatter, verriet ihm, wo er als erstes Suchen sollte und so lief er durch den hellen Eingangsbereich zielsicher Richtung Küche.„Kann man schon gratulieren oder ist es noch zu früh?", platzte es aus Keno heraus als er im Türrahmen die zwei Frauen erblickte.Eine große, schlanke Frau mit ebenso dunkelblonden Haar blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an und strahlte überglücklich.„Du darfst!", jauchzte sie ganz aufgeregt und machte dabei einen kleinen Luftsprung. „Glückwunsch, Schwesterherz!", mit einem gekonnten Griff wirbelte er sie in der Luft herum und küsste sie auf beide Backen.„Wann geht's los?"„Gleich im nächsten Schuljahr. Ich übernehme die erste Klasse. Kannst du das glauben? Endlich darf ich unterrichten!", stieß sie freudig aus und überschlug sich fast mit ihren Wörtern. Maibrits Mund war schon immer schneller, als ihr Kopf und er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie mit ihren sympathischen und fröhlichen Art im nächsten Jahr hier auf Myr an der Grundschule eine Scharr aufgeregter Erstklässler in Schach hielt. Er ging zu seiner Mutter herüber und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange, auch wenn sie sich sichtlich freute, bemerkte er, wie sie mit sich Rang. Der Verlust ihrer ältesten Freunde traf sie tief, doch sie versuchte wie immer stark zu sein und sich nichts anmerken zu lassen. „Wie geht es dir?", fragte er leise, als Maibrit gerade mit einem Satz Teller und Besteck in den Wintergarten verschwand, um den Tisch zu decken. Er wollte seine Schwester wenigstens den kleinen Moment der Freude lassen, bevor sie zurück zum alltäglichen kehrte.„Gut, gut.", sagte sie etwas zu betont fröhlich.„Kommen Janne und Thom heute?"Sie ließ ihre Hände sinken und blickte ihn sichtlich nachdenklich. „Ich habe wirklich alles probiert. Wenn es nach mir ginge, würde die zwei nicht in ihrem Elternhaus schlafen, sondern hier. Stell dir mal vor wie schrecklich das alles für sie sein muss.", sie resignierte, „Aber jetzt essen wir erstmal. Komm mit Johan und Lijan warten schon."Er fand beide genannten im Wohnzimmer, sein Vater saß mit seiner Lesebrille auf der Nase und einer Zeitung auf seinen Lieblingssessel. Seine Miene erhellte sich, als er seinen Sohn erblickte und begrüßte ihn mit einer Umarmung. Sein Bruder Lijan nickte ihn nur knapp zu. Typisch. Anscheinend hatte er seine schlechte Laune immer noch nicht beigelegt und Keno schwor sich mit ihm nächste Woche zu reden. Das ganze musste endlich ein Ende haben. Während des Essen unterhielt Maibrit wie gewohnt den ganzen Tisch mit ihren Zukunftsplänen und alle waren sichtlich erleichtert über die willkommene Ablenkung nicht über die bevorstehende Beerdigung sprechen zu müssen. „Ach und Lijan ich habe dich vorhin mit Anea knutschend am Hafen gesehen. Seid ihr jetzt zusammen?", fragte sie unverblümt.„Das geht dich gar nichts an.", fauchte dieser nur schnippisch zurück und hinterließ ein triumphierendes Lächeln auf Maibrits Gesicht. „Hah, ich hab es doch gewusst!", stieß diese aus und erntete einen bösen Blick von Lijan. „Anea ist wirklich ein liebes Mädchen. Bring sie doch mal zum Essen mit.", versuchte Magit die Situation aufzulockern und ihren Sohn gut zuzureden, was ihr einen etwas skeptischen Blick von Johan einbrachte. Auch sie wußten ganz genau, wie Lijan sein Junggesellenendasein auskostete und hofften inständig, dass auch hier ein wenig Ruhe einkehrte. „Ich frag sie.", antworte er gewohnt knapp, während er mit seiner Gabel versuchte zwei Erbsen aufzuspießen. „Oh, ich sehe schon wie dir Oskar die Beine langzieht, wenn du es dir mit ihr verdirbst.", entgegnete Maibrit, während sie sich eine Gabel mit Kartoffelbrei in den Mund schob.„Wie geht's mit deinem Strandhaus-Projekt voran.", wechselte nun Magit das Thema und schaute Keno erwartungsvoll an.„Sehr gut, alle Häuser sind jetzt so gut wie fertig eingerichtet und wenn nächste Woche das Internet endlich angeschlossen wird, ist es bereit für die Vermietung.", entgegnete er stolz, während Lijan am Platz gegenüber die Stirn runzelte.„Hast du ihnen noch gar nicht von deinem ersten Besucher erzählt?", fragte er betont überrascht und Keno wußte, dass er das nur tat, um von sich abzulenken. Am liebsten wäre er über den Tisch gesprochen und hätte seinen kleinen Bruder am liebsten in den Schwitzkasten genommen. Naja, was soll's, sie hätten es ohnehin herausgefunden und außerdem, waren es seine Strandhäuser und er konnte schließlich darüber entscheiden, wer dort wohnte oder nicht. Da war doch nichts dabei? "Oder besser gesagt Besucherin.", fügte dieser schelmisch hinzu, als er bemerkte mit seiner Andeutung komplett ins Schwarze getroffen zu haben. Alle Augenpaare waren nun auf Keno gerichtet und musterten ihn neugierig. Keno räusperte sich.„Ähm ja, nein, also eine Frau aus Berlin, Emilia, wohnt zur Zeit testweise im Musterhaus."Lijan konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ja, so kann man das auch nennen.", zwinkerte dieser seinem Bruder zu.Keno kniff streitlustig die Augen zusammen und nahm sich fest vor bei der nächsten sich Gelegenheit seinen Bruder zur Brust zu nehmen. Was zu viel war, war zu viel. „Naja, es war nichts mehr frei und ich habe jemanden gesucht, der das Strandhäuschen für mich testet. Eine praktische win, win Situation."Das müsste sein Bruder doch verstehen. Schließlich hatte der Betriebswirtschaftslehre studiert. „Ich habe gehört sie ist sehr sympathisch und sieht dazu auch noch hübsch aus.", hakte Magit ein und fügte erklärend hinzu, „Tore, hatte heute morgen kurz angerufen und von dem Strandfest gestern erzählt. Sie macht also hier Urlaub, ja?"Keno stöhnte innerlich auf. Wie konnte er nur vergessen, dass sich Neuigkeiten hier rasant wie ein Buschfeuer verbreiten. „Sowas in der Art. Jedenfalls möchte ich ihr heute die Insel zeigen. Wir haben doch noch die zwei alten Fahrräder im Schuppen oder?"„Klar, ich schaue später mal nach, ob sie noch okay sind.", mischte sich nun auch Johan in das Gespräch ein. „Danke.", lächelte er seinen Vater zu. Magit war dabei nicht entgangen, wie sich ein Strahlen auf dem Gesicht ihres Sohnes ausbreitete und freute sich sichtlicht, dass es endlich nach so langer Zeit wieder zurückkehrte. Es war nun knapp zwei Jahre her, als ihn Lawinia aus heiterem Himmel und unter so unglücklichen Umständen hat sitzen gelassen und er war nie so richtig darüber hinweg gekommen. Stattdessen hatte Keno sich in die Arbeit gestürzt und unermüdlich geackert, sodass Magit sich fragte, ob er das wohl auf ewig so durchziehen wollte bis er irgendwann müde und kaputt umkippte, wie ihr Vater das nach dem Tod ihrer Mutter tat. Bei dem Gedanken drehte sich ihr regelmäßig der Magen um und sie wollte definitiv nicht, dass dass Keno das vertrauen in die Frauenwelt endgültig verloren hatte. Doch anscheinend hatte Emilia etwas an sich, dass Keno wieder zurück ins Leben holte und noch ahnte sie nicht, wie viel die beiden wohl gemeinsam hatten. Gut so, dachte Magit zufrieden.Maibrit klatschte euphorisch in die Hand und bekam dadurch die ganze Aufmerksamkeit.„Prima, dann bringt Lijan nächste Woche Anea mit und du kannst doch auch mal Emilia fragen. Das wird bestimmt lustig."Ob Keno die Vorstellung als lustig beschrieben hätte, wußte er nicht. Wie lustig konnte es schon sein Emilia der ganzen Familie buchstäblich zum Fraß vorzuwerfen, zumal sie selber gerade kaum Lust hatte über ihre aktuelle Situation zu sprechen, was man in Anbetracht der Tatsachen mehr als verstehen konnte. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass ihm der Gedanke Emilia beim allwöchentlichen Mittagessen dabei zu haben, gefiel. Etwas an ihr löste in ihm etwas aus, dass er schon lange nicht mehr gespürt hatte und auch wenn er sich nicht die Finger verbrennen wollte, so konnte er nicht abstreiten, mehr davon zu wollen. Er genoss die Gespräche mit ihr und dass sie nicht so oberflächlich wie die anderen waren. Sie hatte sich zwar gestern ihm gegenüber ein Stückchen geöffnet, doch er war sich sicher, dass da noch mehr hinter stecken würde. Viel mehr. Er wollte sie kennenlernen, sich gemeinsam mit ihr überlegen, wie sie ihr Problem lösen könnten und sie wieder glücklich sehen. Sobald er die Fahrräder gemeinsam mit seinem Vater auf die Vorrichtung seines Auto gespannt hatte, würde er ihr zumindest heute schon mal ein kleines Stückchen näher kommen und dann konnte er immer noch abwägen, wie es weiterging.

Ein SommertraumWhere stories live. Discover now