Kapitel 1 - Villa Hohenthal

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»Wer versteckt seine Schule denn auch so, dass ein Navi sie nicht finden kann?«, beschwerte sich Jans Vater kopfschüttelnd. Konzentriert saß er hinter dem Steuer des Familienkombis und warf dabei immer wieder suchende Blicke aus dem Seitenfenster. Schon seit einer Weile kreuzte er durch den Wald, an ›wegen Baumfällarbeiten gesperrt‹-Schildern und großen, hölzernen Stämmen vorbei. Waldarbeiter, Rehe und Wanderer hatten sie schon gesehen, nur von ihrem eigentlichen Reiseziel fehlte noch jede Spur.

»Laut der Karte müssen wir jetzt nach links«, erklärte Jans Mutter zögerlich. Ihr war deutlich anzuhören, dass sie sich nicht wirklich sicher war. Dennoch folgte der Vater ihrem Rat und sie bogen links ab. Jan Maisner saß währenddessen aufgeregt auf der Rücksitzbank. Sein Herz pochte vor freudiger Erwartung, schneller als die vom holprigen Untergrund durchgeschüttelten Wasserflaschen im Kofferraum. Während mit jeder falschen Abbiegung der Unmut seiner Eltern zunahm, steigerte die Irrfahrt durch den Wald nur seine Vorfreude. Schließlich begann mit dem heutigen Tag ein neues Kapitel seines Lebens. Es begann, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten: Seine neue Schule. Und jeder Baum, den sie passierten, brachte ihn ein Stück dorthin, zumindest symbolisch. Ob das auch geografisch der Fall war, bezweifelte mittlerweile auch Jan.

Doch auf einmal sah er etwas Farbiges zwischen den Bäumen vor ihnen. Etwas Gelbes. Es wirkte leicht verschwommen und Jan musste genau hinschauen, um es wirklich zu sehen. Doch je mehr er sich anstrengte, umso mehr erkannte er auch. Fensterrahmen, Dachziegel, Regenrinnen – es war ein Haus. Seine neue Schule?
»Da ist sie!«, rief er aufgeregt.
Sein Vater ließ ein verwundertes Brummen ertönen, trat aber dennoch auf die Bremse. Das Auto wurde langsamer und kam schließlich genau vor einem großen, steinernen Hof zum Stehen.

Das erste Mal konnte Jan das Haus in ganzem Ausmaß sehen. Er erinnerte sich, dass es ›die verlassene Villa Hohenthal‹ hieß. Und genau so sah es auch aus. Große Seitenflügel, erhabene Eingangstore und kleine Türmchen auf dem Dach: So stellte sich Jan eine Villa vor. Nur leider war auch das Wort ›verlassen‹ überaus passend. Die Fenster waren größtenteils aus den Angeln gefallen, deren Scheiben zerbrochen oder von Spinnweben übersät. Die Wände waren von braunen Flecken und Unkraut geziert, die allerdings nicht an allen Stellen die Löcher im Gemäuer verdeckten. Ein kleiner Turm, der wohl einmal das Dach geschmückt hatte, lag zerbrochen auf dem Boden.

»Bist du sicher, dass du hier richtig bist?«, fragte seine Mutter sorgenvoll und musterte ebenfalls das Gebäude. »Sieht nicht so aus, als könnte man hier zur Schule gehen.«
Auch Jan fand das Haus nicht sehr einladend. Es wunderte ihn außerdem, dass außer ihnen niemand sonst auf dem großen Platz vor der Villa war. Seine Vorfreude wandelte sich langsam in Sorge. Vielleicht war alles gar nicht so schön, wie er es sich vorgestellt hatte. Oder er hatte etwas falsch gemacht. War er zu früh? Oder war dieses Haus doch noch nicht das richtige Ziel? Prüfend kramte er einen Zettel aus seiner Hosentasche.

»Die Uhrzeit stimmt schon mal«, meinte er. »Ob daswirklich die Villa Hohenthal ist, weiß ich natürlich nicht. Aber es wird dochnicht allzu viele verlassene Häuser hier im Wald geben.«

Sein Blick blieb nachdenklich an dem mittlerweile ziemlich zerknitterten Papier hängen. Er erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem er die Nachricht bekommen hatte. Vor gut einem Monat hatte ein Brief vor ihrer Haustür gelegen, mit einer Eulenfeder daneben. In silbernfarbener Tinte war darauf geschrieben worden, Jan sei ein Zauberer und solle am 25. August zur Villa Hohenthal kommen.

Seine Eltern hatten dem Brief sehr misstrauisch gegenübergestanden. Sein Vater hatte ihn bereits auf die Fensterbank im Flur gelegt, um ihn an seinem nächsten Arbeitstag bei der Polizei abgeben zu können. Doch an diesem Nachmittag hatte ein kleiner, untersetzter Mann vor der Haustür der Maisners gestanden. Er hatte sich als Herr Hausmann vorgestellt und mit Jan und seinen Eltern ein langes Gespräch geführt. Ein Gespräch, das Jans Leben grundlegend verändert hatte. Der Mann hatte von Zauberei erzählt, dass sie wirklich existierte, dass es eine ganze Schule dafür gäbe und dass Jan eine magische Veranlagung hätte. Um zu zeigen, dass er nicht nur leere Worte redete, hatte er sogar die Silberlöffel aus der Besteckschublade in hölzerne Spielfiguren verwandelt und den leicht angebrannten Kuchen von Jans Mutter genießbar gemacht. Und obwohl Jan schon ab der Löffelverwandlung Feuer und Flamme dafür gewesen war, selbst so etwas zu erlernen, hatten seine Eltern abends noch lange Zeit mit dem Gast geredet. Am nächsten Morgen war der Beschluss aber fest: Jan durfte auf das Zauberinternat gehen. Herr Hausmann war daraufhin mit Jan ins Nord-Kaufhaus gereist, um Zaubergegenstände zu besorgen. Sie hatten verschiedenste Schulbücher, einen Zauberstab aus Erlenholz und einer Greifenfeder als Kern und eine Schleiereule namens Blitz gekauft. Zudem hatte er gezeigt, wie man Euros in sogenannte Z-Mark umtauschen konnte. Als sie wieder nach Hause gefahren waren, war nicht nur Jans Koffer voller neuer Gegenstände gewesen, sondern auch sein Herz voller neuer Erfahrungen.

Die vergessene Schule - HP FanFictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt