*19. Kapitel*

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Als ich morgens aufwachte, lag Emilia in meinen Armen.
Kurz war ich vollkommen verwirrt.
Was war passiert?
Als mein Blick allerdings auf die Kerzen und Decken fiel, kam meine Erinnerung langsam zurück.
Emilia war zu mir gekommen, weil sie Angst hatte und bei mir Schutz vor den dunklen Schatten der Nacht gesucht hatte.
Vorsichtig, um die noch Emilia nicht aufzuwecken, setzte ich mich aufrecht hin und streckte mich gähnend.
Dann betrachtete ich noch kurz das friedlich schlafende Mädchen neben mir.
Ihre Augen waren sanft geschlossen und sie lächelte leicht.
Das Sonnenlicht ließ ihre Haare erstrahlen.
Warte... das Sonnenlicht?
Ein heißkalter Schock durchfuhr mich.
Panisch weckte ich die immer noch schlafende Emilia und stürzte ins Schlafzimmer.
Dort lag Taavi auf meiner Decke, die auf dem Boden lag und schlief tief und fest.
Ich weckte auch ihn auf, zog mir ein frisches T- Shirt an und lief wieder raus zu Emilia.
Das rothaarige Mädchen saß noch ein bisschen verschlafen auf den weichen Decken und gähnte.
,,Was ist denn los?", fragte sie.
,,Es ist Dienstag. Und zwanzig nach acht!"
Emilia zuckte zusammen und sprang auf.
,,Beeil dich!", drängte ich sie.
Die Angesprochene schnappte sich ihre Jacke, zog ihre Schuhe an und stand an der Tür.
,,Schon fertig!"
Ich nickte anerkennend, schlüpfte in meine Schuhe und zusammen liefen wir durch das Dorf zum Hauptgebäude.
,,Ähm, wird das nicht ein bisschen ein bisschen komisch aussehen, wenn wir beide zusammen zu spät ins Klassenzimmer kommen?", fragte ich unsicher.
Emilia zuckte mit den Schultern.
,,Scheiß drauf!", meinte sie, nahm meine Hand und zog mich die Treppe hinauf.
Taavi tappte noch ein bisschen verschlafen die Treppe nach oben.
Ich folgte ihr wie in Trance, aus der ich erst gerissen wurde, als wir vor dem Klassenzimmer standen und Emilia klopfte, bevor sie die Tür aufriss.
Jeder, wirklich jeder der 24 Schüler inklusive Lehrerin starrten uns an, während Emilia hoch erhobenen Kopfes, immer noch ihre Finger mit meinen verschränkt, an ihren Platz lief, der sich neben meinem befand.
Sofort brach in der ganzen Klasse Geflüster aus, während ich mich mit hochrotem Kopf auf meinen Stuhl fallen ließ.
Emilia ließ meine Hand nicht los und das war gut, denn sie gab mir ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit, sodass sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigte.
Jaro war schon im Klassenzimmer auf Emilias Platz und sah sie vorwurfsvoll an.
Frau Marino, eine Italienerin mit olivfarbener Haut, schwarzen Haaren und einer roten Brille sah uns mit einer hochgezogener Augenbraue an.
Ich hörte mich selbst etwas von wegen dass wir verschlafen hatten stammeln, was unsere Lehrerin mit einem skeptischen Blick als Entschuldigung annahm.
Dann fuhr sie mit dem Unterricht fort und ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, auch wenn ich die stechenden Blicke meiner Klassenkameraden von allen Seiten spüren konnte.
Taavi schien das zu spüren, denn er legte seine feuchte Nase an meine Hand und ich strich über sein Fell.
Irgendwie beruhigte mich das ein bisschen, sodass ich mich wieder auf Mathe konzentrieren konnte.

In der Pause hielt ich mich weiterhin in Emilias und Taavis Nähe auf.
Zusammen konnte ich die Blicke der anderen besser ertragen.
Gerüchte verbreiteten sich hier wahrscheinlich ziemlich schnell, denn schon in der zweiten Pause tuschelten Leute darüber, dass wir zusammen waren.
Mir war das alles höchst unangenehm und ich fragte mich, wie Emilia so gleichgültig schauend einfach an diesen Leuten vorbeigehen konnte.
Ein paar mal hörte ich auch, wie Taavi mich verteidigte und dabei vielleicht nicht so wirklich auf seine Wortwahl achtete.
Ich seufzte.
Wenn der Zusammenhalt der Schüler wirklich so schlecht war, wie sollten wir dann diesen komischen, neuen Direktor überstehen?

,,Kommst du mit zu mir zum Hausaufgaben machen?", fragte mich Emilia.
Ich schaute Taavi fragend an.
,,Würde es dich stören, wenn ich mitgehen würde?", fragte ich.
Einen Streit mit meinem Seelenpartner konnte ich mir jetzt nicht leisten.
Taavi schüttelte den Kopf.
Geh du nur. Dann kann ich noch etwas schlaaa..., der Rest des Satzes ging in einem gewaltigen Gähnen unter.
Ich lachte.
,,Ja, ruh dich aus", befahl ich ihm und lief dann mit Emilia los zu ihrer Hütte.

Emilias Hütte sah in etwa so aus wie meine, nur dass durch ihr Fenster kein Schneetreiben, sondern ein Wald, durch den strahlendes Sonnenlicht fiel, zu sehen war.
Außerdem war ihr Dorf das Größte, weswegen wir erst eine gefühlte halbe Stunde laufen mussten, bis wir endlich ankamen.
In der Hütte setzte sich Emilia auf ihr Sofa und sofort brach ihre gleichgültige Miene in sich zusammen.
,,Tut mir leid, Lukas. Das ist alles meine Schuld", meinte sie traurig.
Ich setzte sich zu ihr und sah sie an.
,,Was ist deine Schuld?", fragte ich sanft.
,,Dass wir jetzt von allen komisch angestarrt werden, dass jetzt Gerüchte über uns aufkommen und dass wir von allen Seiten komisch angestarrt werden. Und das nur, weil ich mein Temperament nicht zügeln konnte! Wenn wir nacheinander rein wären, dann würde jetzt nicht jeder über uns reden. Ich weiß, dass du nicht gern im Mittelpunkt stehst."
Jetzt hatte das Mädchen neben mir angefangen zu weinen.
Ich nahm sie sanft in den Arm und hielt sie fest, so lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Als das Schluchzen weitgehend verstummt war, fragte ich: ,,Geht's wieder?"
Emilia nickte.
,,Danke", meinte sie und zog ihre Nase hoch.
Ich gab ihr ein Taschentuch, dann fing ich an zu reden: ,,Hör zu, Emilia. Jeder macht mal Fehler. Es ist nicht schlimm, so lange du und Taavi mir beistehen. Dann macht mir das nichts aus. Und die Gerüchte verfliegen schneller wieder als du ,Seelenpartner' sagen kannst", meinte ich und drückte das Mädchen wieder an mich, wobei ich versuchte, dass unsagbare Kribbeln in meinem ganzen Körper zu ignorieren.
Emilia schlang auch ihre Arme um meinen Hals und kurz verharrten wir in dieser Position.
Dann ließ Emilia mich wieder los und auch ich musste sie wohl oder übel wieder freigeben.
,,Hast du eigentlich Jaro gesehen?", fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
,,Ich hab keine Ahnung, wo der jetzt schon wieder ist."
Ich schaute mich um, als ich plötzlich ein Kratzen von der Tür hörte und zog meinen einen Mundwinkel nach oben.
,,Ich hab ihn gefunden", meinte ich und deutete auf die Tür.
,,Oh Gott, Jaro!", meinte nun auch Emilia lachend und öffnete die Tür, vor der ein sehr beleidigt schauender Jaro stand.
Der schwarze Wolf hob die Schnauze und stolzierte an uns vorbei.
Emilia schaute kurz entschuldigend, dann lief sie hinter Jaro her und sprach leise mit ihm.
Ich setzte mich schon mal an den Tisch und stüzte meinen Kopf auf meine Hand.
Wenn mir vor zwei Monaten jemand erzählt hätte, dass ich mit einem Polarfuchs reden kann, mit einem Lichtstrahl in ein Land vor der Küste Indonesiens reisen kann und in Emilias Hütte sitzte, während sie mit einem Wolf spricht, hätte ich denjenigen auf der Stelle in die Psychiatrie einliefern lassen.
Tja, der Lauf des Schicksals war unergründlich.

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