Wallbreaker

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Vierte Wand: Der Begriff „vierte Wand" (fourth wall) bezeichnet eine imaginäre Wand, die die Figuren einer Geschichte vom Rezipienten trennt. Daraus resultierend spricht man vom „Brechen der vierten Wand", wenn eine Figur sich direkt ans Publikum wendet oder sonst auf irgendeine Weise mit diesem interagiert. Dieses Phänomen tritt meist nur für eine kurze Zeitspanne auf und hat für gewöhnlich keine Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschichte.

Ich bin langweilig. Das ist die eine Sache, die ich mit Bestimmtheit über mich sagen kann. Langweilig vom Scheitel bis zur Fußsohle. Ich bin unscheinbar, aber nicht genug, um als hässlich zu gelten, ich habe keine außergewöhnlichen Hobbys, mit denen ich glänzen könnte oder sonst irgendwelche bemerkenswerten Eigenschaften. Mein Leben ist vollkommen uninteressant. Und das ist okay so. Ich bin damit zufrieden. Ich verstehe bloß nicht, warum du immer wieder auftauchen musst.

Es ist nicht so, dass ich etwas gegen dich habe. Ich kenne dich ja gar nicht. Aber hast du nichts Besseres zu tun als mich ständig zu beobachten? Es muss doch interessantere Dinge für dich geben, als mir dabei zuzusehen, wie ich es mir in dem roten Plüschsessel in Doktor Linders Wartezimmer bequem mache und in einer Zeitschrift über die Liebesaffären verschiedener Promis lese. Aber vielleicht bist du auch gar nicht wegen mir hier. Vielleicht möchtest du nur Doktor Linders Wartezimmer bewundern. Es ist auch wirklich schön eingerichtet. Flauschige Sessel in verschiedenen, aufeinander abgestimmten Farben, ein Glastisch in einer seltsamen ovalen Form, die vermutlich in der Designerwelt gerade der letzte Schrei ist und geschmackvolle Gemälde an den Wänden. Es sieht gar nicht wie ein Wartezimmer aus, eher wie ein Raum in einem Palast. Eine der erfolgreichsten Innenarchitektinnen Deutschlands hat es eingerichtet. Ein toller Ort, an dem man sich sofort wohlfühlt, nicht wahr?

Ich mache dir einen Vorschlag: Warum bleibst du nicht einfach hier? Mach es dir bequem. Nimm dir auch eine Zeitschrift. Sie ist sicher interessanter als ich. Und wenn es so weit ist und ich ins Zimmer nebenan gerufen werde, dann bleib einfach sitzen. Lies weiter. Genieß dein Leben. Ich bin zwar nicht sicher, ob du überhaupt in dem Sessel sitzen oder eine Zeitschrift lesen kannst, immerhin bist du ja nicht wirklich hier, aber du könntest es doch wenigstens versuchen, oder? Bitte.

Es ist nicht so, dass ich dich loswerden möchte, nur ... also gut, ja, ich will dich loswerden. Das hat aber nichts mit dir persönlich zu tun. Ich bin mir sicher, du bist ein liebenswerter und sympathischer Mensch oder Alien oder Echsenwesen oder was auch immer. Ich glaube nur, dass es für uns beide besser ist, wenn wir für eine Weile auf Distanz gehen. Und mit einer Weile meine ich für immer. Bitte sei mir nicht böse. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Ich brauche meinen Freiraum.

Ich zucke zusammen, als sich plötzlich die Tür zu Doktor Linders Behandlungszimmer geräuschvoll öffnet und ein Mädchen herausgestampft kommt. Sie ist noch ein Kind, bestimmt erst elf oder zwölf Jahre alt, hat rabenschwarze Locken und ein störrisches Kinn. Wenn sie nicht so ein mürrisches Gesicht ziehen würde, wäre sie wahrscheinlich sogar ganz hübsch. Vermutlich ist sie die verzogene Göre reicher Eltern, die ihr Kind lieber zum Therapeuten abschieben, als sich selbst darum zu kümmern. So sind die meisten von Doktor Linders Patienten.

Ich bin eine Ausnahme. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter schreibt Liebesromane. Die beiden könnten es sich nie im Leben leisten, mich zu Doktor Linder zu schicken, der einer der erfolgreichsten und somit teuersten Psychotherapeuten Deutschlands ist. Ich bin nur hier, weil Doktor Linders Ehefrau und meine Mutter seit der Schulzeit gute Freunde sind, weshalb Doktor Linder uns einen riesigen Rabatt gibt.

Auch unterscheide ich mich in einem anderen Punkt von Doktor Linders übrigen Patienten. Im Gegensatz zu den meisten bin ich nicht hier, weil meine Eltern nicht in der Lage sind, mich ordentlich zu erziehen, oder ich einen Nervenzusammenbruch bekomme, wenn meine Handtasche nicht zu den Schuhen passt. Nein, ich habe ich ein richtiges Problem, bei dem ich Hilfe brauche. Ein Problem, das mich schon mein Leben lang begleitet und das ich einfach nicht in den Griff bekomme. Ich hoffe, du nimmst das jetzt nicht persönlich, aber dieses Problem bist du.

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt