Die Liebesdreiecks-Vernichterin vs. Mary Sue

66 15 5
                                    

Es ist so weit. Meine bisher wichtigste und gefährlichste Mission. Das Aufeinandertreffen mit meiner schlimmsten Feindin. Mary Sue. Niemand sonst spielt so mit Gefühlen. Niemand sonst bricht so viele Herzen.

Vorfreude flammt in mir auf. Das größte Liebesdreieck aller Zeiten wartet nur auf mich. Und ich werde es unter meiner Fußsohle zerschmettern. Ich schließe einen Moment die Augen und atme tief durch, bis ich wieder ganz ruhig bin. Bloß nichts überstürzen. Bloß keine Fehler machen. Wenn ich die Königin der Liebesdreiecke zu Fall bringen will, darf ich mir keinen einzigen Fehler erlauben. Aber wenn dies jemandem gelingen kann, dann mir. Immerhin bin ich die beste (wenn auch zugegebenermaßen einzige) Liebesdreiecks-Vernichterin zwischen den Welten.

Ich verlagere mein Gewicht ein wenig, um es mir etwas bequemer zu machen. Schon seit zwei Stunden liege ich hinter den riesigen Blumenkübeln von Mary Sues Nachbarn und observiere ihr Haus. Bisher hat sich noch nicht viel getan. Weder habe ich meine Feindin zu Gesicht bekommen, noch ist jemand anderes aufgekreuzt. Tatsächlich würde ich langsam anfangen, daran zu zweifeln, dass ich mich am richtigen Ort befinde, hätte mein untrüglicher siebter Sinn für Liebesdreiecke mich nicht eindeutig hierhergeführt. Dennoch werde ich langsam nervös. Es hätte schon längst etwas passieren müssen. Mary Sue hätte heraustreten oder ein armer Kerl, dem sie das Herz brechen wird, auftauchen müssen. Aber bisher ist alles ruhig. Viel zu ruhig. Etwas stimmt nicht. Ich beiße mir auf die Lippe und hantiere an meiner Brille herum. Weiß sie etwa, dass ich da bin?

Eine weitere Stunde verstreicht. Nichts passiert. Langsam habe ich die Nase voll. Wenn ich so weitermache, werde ich das Liebesdreieck nie zerstören. Es ist Zeit, die Strategie zu wechseln und in die Offensive zu gehen. Ich stehe auf, klopfe mir ein wenig Staub von meinem Hosenanzug und rücke meine Brille zurecht, sodass sie mir vollkommen symmetrisch auf dem Nasenbein sitzt. Mit entschlossenen Schritten schreite ich auf ihre Haustür zu. Dabei lege ich mir einen Plan zurecht. Es wäre ein Fehler, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und Mary Sue meine wahren Absichten zu verraten. Dazu ist es zu früh. Zunächst muss ich mehr Daten über sie und ihr Liebesdreieck sammeln, damit ich die Situation analysieren kann. Ich werde meine wahre Identität also zunächst verheimlichen.

Ich poche an der Tür. Ich werde mich als Journalistin für eine dieser geistlosen Zeitschriften mit Beziehungs- und Abnehmtipps ausgeben, auf die Mädchen wie Mary Sue so abfahren, und sie um ein Interview bitten. Mary Sue wird sich so geschmeichelt fühlen, dass sie mir bedenkenlos alles erzählen wird. Zumindest hoffe ich das.

Mein Herz pocht schneller, als ich höre, wie sich von innen Schritte nähern und ich zwinge mich zu einem Lächeln. Mit der rechten Hand umklammere ich unwillkürlich die Visitenkarten in meiner Jackentasche. Die Tür öffnet sich. Die Worte, die ich mir zuvor so sorgfältig zurechtgelegt habe, bleiben mir im Hals stecken.

„Oh mein Gott!", platzt es stattdessen aus mir heraus. „Was ist denn mit deinen Haaren passiert?"

Mary Sues Haare sind ungleichmäßig abgeschnitten und an den Spitzen ein wenig verkohlt. Aus irgendeinem Grund fühlt sich der Anblick falsch und unnatürlich an. Ich verspüre den dringenden Wunsch, sie sofort zum nächsten Friseur zu schleppen.

Das Mädchen im Türrahmen bedenkt mich mit einem säuerlichen Blick. Erst jetzt fällt mir auf, wie hübsch sie ist. Wohlgeformte Gesichtszüge und Haut wie aus Porzellan. Ihre Augen sind groß und von einem strahlenden Himmelblau. Sie ist schön wie die Sonne. Wahrscheinlich muss sie einen Kerl nur anblicken, damit er ihr hoffnungslos verfällt.

Verärgert stelle ich fest, dass nicht einmal ihre abartige Frisur ihrer Schönheit Abbruch tun kann. An jedem anderen Mädchen hätten diese verstümmelten Haare einfach nur unmöglich ausgesehen, aber Mary Sue verleihen sie ein verwegenes und stolzes Aussehen. Kein Wunder, dass die Männer ihr hinterherlaufen.

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt