👁️👁️

43 12 6
                                    

Das Mädchen schnappt sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, ihre Jacke, die sie während ihres Termins unordentlich zusammengeknüllt auf einem Sessel liegen gelassen hat, obwohl sich gleich neben der Tür leere Garderobenhaken befinden, und nimmt sich im Hinausgehen noch eine der Zeitschriften vom Glastisch mit. Ich finde das ziemlich dreist, sage aber nichts. Vielleicht hat sie Doktor Linder ja zuvor um Erlaubnis gebeten, eine Zeitschrift mitnehmen zu dürfen. Ich kann das nicht ausschließen, auch wenn ich es nicht glaube.

Kurz nachdem sie weg ist, streckt Doktor Linder seinen Kopf ins Wartezimmer, um mich hereinzubitten. Er wirkt müde. Besorgt betrachte ich den erschöpften Ausdruck auf seinem Gesicht. Das Mädchen eben scheint wirklich nicht einfach gewesen zu sein. Der Arme.

Ich stehe auf und betrete sein Behandlungszimmer. Du folgst mir. Natürlich. Ich hatte ich nichts anderes erwartet. Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, dir das Wartezimmer schmackhaft zu machen. Ich hätte dir sogar meine Zeitschrift überlassen, wenn du das gewollt hättest. Die Story über die Schauspielerin, die von einem der Öffentlichkeit unbekannten Vater Zwillinge erwartet, hätte dir bestimmt gefallen. Sie ist zumindest weitaus interessanter als mein langweiliges Leben.

„Hallo Kassandra", begrüßt mich Doktor Linder mit einem Lächeln. Er ist ein gutaussehender Mann Mitte Dreißig mit Lachfältchen um die Augen und einer altmodischen Brille, die ihn ein wenig weltfremd wirken lässt. Ich lächle zurück und lasse mich auf die Couch auf meinen üblichen Platz sinken. Vor mir steht eine dampfende Tasse Apfeltee. Ich nippe daran und er lässt sich mir gegenüber auf einen schweren Sessel nieder. Auch er hält eine dampfende Tasse in der Hand. Bei ihm handelt es sich um Pfefferminztee. Wir prosten uns zu und trinken schweigend. Das ist unser Ritual. Schon seit ich das erste Mal vor knapp einem Jahr hergekommen bin, weil meine vorherigen Therapeuten mich zu einem hoffnungslosen Fall erklärt haben.

Fast zeitgleich setzten wir schließlich unsere Tassen ab. Ich lächle Doktor Linder zu. Er sieht immer noch ein wenig erschöpft aus, obwohl der Tee geholfen zu haben scheint.

„Wie geht es Ihnen, Doktor Linder?", erkundige ich mich daher besorgt. Er sieht mich durch seine Brillengläser hindurch mit seinem typischen Psychologenblick an. Nicht kritisch oder wertend, sondern neugierig und Anteil nehmend. Du kannst mir vertrauen, scheinen seine Augen zu sagen. Und das tue ich auch. Ich vertraue ihm.

„Sollte ich das nicht dich fragen?", erwidert er schmunzelnd. Eine tiefe Woge der Zuneigung überkommt mich. Wenn ich anderen von – naja, von dir – erzähle, denken sie im besten Fall, ich mache Witze und im schlimmsten Fall, dass ich verrückt bin. Selbst meine Eltern glauben, dass ich bloß eine blühende Fantasie besitze. Nur Doktor Linder nimmt mich ernst. Er ist der Erste meiner Therapeuten, der mich nicht bloß belächelt, wenn ich dich erwähne. Stattdessen versucht er wirklich, eine Lösung zu finden. Deswegen ist er mein Freund. Ich weiß, es klingt seltsam, schließlich bin ich ein Teenager und er ein erwachsener Mann, aber so ist es nun mal. Und das ist auch gut so, ich habe nämlich nicht besonders viele Freunde.

„Erzähl mir von deiner Woche", sagt er schließlich und überkreuzt die Beine.

Ich beginne zu berichten, nicht dass es da viel zu sagen gäbe. Die letzte Woche war genauso langweilig und ereignislos wie der Rest meines Lebens. Doktor Linder hört mir konzentriert zu, die Augen fest auf mich gerichtet. Als ich fertig bin, nickt er mir zu und nimmt noch einen Schluck Tee.

„Und was ist mit deinem unsichtbaren Beobachter?", kommt er danach zur Sache. Ich ziehe eine Grimasse. Damit meint er dich.

„Leider nichts Neues", sage ich. „Ich habe versucht, Ihren Rat zu befolgen und ihn gebeten, mich in Ruhe zu lassen, aber ..."

Ich zucke resigniert mit den Schultern.

Ich brauche Doktor Linder nicht zu erklären, dass du trotzdem geblieben bist, er kann es an meinem enttäuschten Gesicht ablesen. Jede Woche macht er mir einen neuen Vorschlag, wie ich mein kleines Problem, wie er dich nennt, in den Griff bekommen könnte. Am Anfang hat er vermutet, die Ursache dafür, dass ich dich wahrnehme, liege an einem Mangel von bestimmten Enzymen oder Nährstoffen. Also wurde ich von zahlreichen Ärzten auf alles Mögliche untersucht. Nichts. Es wurde sogar ein Gehirnscan gemacht, aber auch dabei wurde nichts gefunden.

Danach hat Doktor Linder systematisch mein Leben unter die Lupe genommen, für den Fall, dass ein traumatisches und längst vergessenes Erlebnis aus Kindertagen schuld daran ist, dass ich dich wahrnehme. Er hat mich Entspannungstechniken gelehrt und mir geholfen, tief in mein Unterbewusstsein einzudringen. Dabei ist auch einiges zu Tage gekommen – immerhin habe ich zwei große Brüder, also war meine Kindheit nicht immer einfach – aber nichts, was nicht im Bereich des Normalen läge oder was deine Existenz rechtfertigen würde. Mittlerweile ist er zu Übungen übergegangen, die mir helfen sollen, mich aktiv mit dir auseinanderzusetzen, aber auch das war bisher erfolglos.

Ich verstehe dich einfach nicht. Du bist immer da, schon seit ich denken kann, und beobachtest mich. Ich weiß, dass du meine Worte gerade hörst. Ich weiß, dass du mich siehst. Aber du reagierst nicht. Nie sagst du etwas, nie machst du dich bemerkbar, außer eben dadurch, dass du da bist. Merkst du denn gar nicht, wie unfair das ist?

Doktor Linder seufzt leise. Auch er ist enttäuscht, dass unsere bisherigen Bemühungen nicht gefruchtet haben. Einen kurzen Moment fürchte ich, dass nun auch er das Handtuch schmeißen und mich als unheilbaren Fall abfertigen wird wie meine vorherigen Therapeuten. Aber nein. Doktor Linder würde mich nie im Stich lassen. Er möchte mir helfen. Ich kann ihm vertrauen. Er faltet seine Hände und blickt mich nachdenklich an.

„Ich möchte heute etwas mit dir probieren", sagt er schließlich. „Ich möchte, dass du mit deinem unsichtbaren Beobachter sprichst. Laut. Sag ihm, was du auf dem Herzen hast und warum du möchtest, dass er verschwindet."

Ich schlucke. Die Vorstellung laut mit dir zu reden ist mir unglaublich unangenehm. Es ist eine Sache zu wissen, dass du meine Gedanken mithörst, aber eine ganz andere laut mit dir zu kommunizieren. Immerhin bist du nicht da, zumindest nicht körperlich. Wenn ich laut mit der Luft rede, werde ich mir vorkommen wie eine Verrückte. Ich werfe Doktor Linder einen flehenden Blick zu. Er nickt mir aufmunternd zu und sofort fühle ich mich besser. Ich vertraue ihm. Wenn Doktor Linder glaubt, es könnte helfen, dann werde ich es probieren. Auch wenn ich mir dabei total bescheuert vorkomme.

„Also gut", murmle ich und räuspere mich. Ich bitte um deine Aufmerksamkeit. Gleich werde ich mit dir sprechen. Also jetzt. Boah, ist das verwirrend.

„Ich bin Kassandra", krächze ich nervös, „aber das weißt du ja bereits. Ich wollte dir nur sagen", ich zögere, „ich wollte dir nur mitteilen, dass du ein Stalker bist. Du verfolgst und beobachtest mich ständig und ich will dir hiermit in aller Deutlichkeit sagen, dass mir das nicht gefällt. Das ist gruselig. Außerdem verstößt es gegen das Gesetz. Ich will dir überhaupt keine bösen Absichten unterstellen. Vielleicht dachtest du, es stört mich nicht. Aber das tut es. Wirklich. Also hör bitte damit auf!"

Ich keuche. Es fühlt sich gut an, das mal auszusprechen. Fast, als würde eine schwere Last von mir abfallen. Und? Hat es funktioniert? Bist du noch da?

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt