„Hallo, Jungs", sagt Mary Sue vergnügt, „Sucht ihr mich?"
Sie stößt sich vom Käfig ab und landet anmutsvoll wie eine Leopardin vor den drei Männern, die bei ihrem Anblick erstarren.
„Ma– Mary Sue", krächzt Sherlock und weicht eingeschüchtert einen Schritt zurück.
Mary Sue legt den Kopf schief und lächelt. Es ist ein wunderschönes Lächeln. Das wahrscheinlich schönste Lächeln der Welt. Ich fröstle. Dieses Lächeln macht mir eine Scheißangst.
„Wir wollen dich vernichten, Mary Sue", sagt Pickelgesicht. Seine Stimme klingt unsicher.
„Natürlich wollt ihr das", meint Mary Sue und beugt sich anmutig ein Stück zu ihm vor. Ihre Augen blitzen. „Tut euch keinen Zwang an. Ich stehe genau hier und ich werde mich nicht zur Wehr setzen."
Ich beiße auf meine Unterlippe und fange an wie wild an meiner Brille zu hantieren. Was hat sie vor?
Pipsi tritt einen Schritt näher an sie heran. Er zittert am ganzen Körper. In der Hand hält er einen Dolch. Mary Sue rührt sich nicht vom Fleck. Zuckt nicht einmal mit den Wimpern. Ich umklammere die Gitterstäbe. Meine Knöchel treten weiß hervor. Gleich wird er sie umbringen. Verdammt! Wieso unternimmt sie nicht endlich was?
„Es tut mir so leid, Mary Sue", Pipsi fällt vor ihr auf die Knie und wirf ihr den Dolch zu Füßen. Seine Kapuze rutscht zurück und ich kann Tränen erkennen, die seinem jugendlichen Gesicht hinunterrinnen. „Erst jetzt erkenne ich, was du wirklich bist. Wie vollkommen du bist. Du kannst keine Fehler machen. Es tut mir so leid!" Er schluchzt laut. Rotz läuft ihm die Nase herab. „Ich liebe dich, Mary Sue."
Ungläubig sehe ich zwischen ihm und Mary Sue hin und her. Was zum Geier war das denn? Soweit ich das erkennen kann, hat Mary Sue nichts getan, nicht einmal etwas gesagt, aber Pipsi klappt ein wie ein Pfannkuchen. Ich suche in ihrem Gesicht nach einem selbstgefälligen Lächeln oder ein anderes Zeichen des Triumpfs, aber ihre Mimik bleibt ausdruckslos.
Als nächstes ist Sherlock an der Reihe. Er tritt an Mary Sue heran und ergreift ehrfurchtsvoll ihre Hände. Auch er hat seine Kapuze zurückgeklappt. In seinen Augen stehen Tränen.
„Oh Mary Sue", krächzt er mit bebender Stimme. „Gute, barmherzige Mary Sue. Ich habe deine Weisheit angezweifelt, deine Entscheidungen hinterfragt."
Er senkt beschämt den Kopf und Mary Sue nutzt die Gelegenheit, ihm angeekelt ihre Hände zu entwinden.
„Aber nun, da ich dich sehe, erkenne ich, dass du in allen Punkten Recht hattest", fährt Sherlock fort. „Ich war ein Narr, dir nicht zu vertrauen. Vergib mir, Mary Sue!"
Auch er sinkt vor ihr auf die Knie.
Mein Mund steht mittlerweile so weit offen, dass ein Vogel darin bedenkenlos sein Nest hätte bauen können. Was ist hier nur los? Waren diese Männer nicht bis vor Kurzem noch ganz scharf darauf, Mary Sue umzubringen? Und jetzt beten sie sie an wie eine Göttin?!? Was ist das denn für eine kranke Welt?
„Es reicht! Du hast mich lange genug leiden lassen, Mary Sue", erklingt eine scharfe Stimme. Pickelgesicht tritt mit wehendem Umhang und stolzem Schritt nach vorne. Ich grinse zufrieden. Immerhin einer.
„Willst du mich heiraten?", säuselt er und fällt vor ihr auf die Knie. Mein Lächeln verschwindet, meine Gesichtszüge entgleisen. Das kann doch nicht sein Ernst sein! Auch seine Kapuze klappt zurück und enthüllt zu meiner weiteren Verärgerung ein völlig pickelfreies Gesicht.
„Siehst du", sagt Mary Sue mit genervter Stimme und dreht sich zu mir um. „Siehst du, was ich die ganze Zeit ertragen muss?"
Ich mustere die drei Männer, die in glühender Verehrung Mary Sue anschmachten. Oh ja, was für ein unglaublich hartes Los. Muss echt schlimm sein, so begehrt zu werden.
Mary Sues Augen richten sich auf mich, glühen kurz auf und ein Laserstrahl schießt aus ihnen hervor. Ich quicke auf. Der Strahl trifft das Schloss meines Käfigs, woraufhin es klirrend zu Boden fällt. Ich bin frei. Skeptisch klopfe ich mein Kostüm ab und trete aus meinem Gefängnis.
„Ich weiß einfach nicht, was ich falsch mache", schimpft Mary Sue weiter. „Ich habe mir solche Mühe gegeben, eine grausame Tyrannin zu sein. Aber was ich auch tue, wie sehr ich die Leute auch gegen mich aufbringe, es endet immer auf die gleiche Weise."
Sie macht eine verächtliche Handbewegung in Richtung ihrer drei neuen Verehrer.
„Warte", sage ich langsam, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden habe. „Du willst, dass die Leute dich hassen und gegen dich rebellieren?"
„Rebellion", schnaubt Mary Sue abfällig. „Das ist doch keine Rebellion. Wusstest du, dass das seit meiner Selbsternennung zum Weltherrscher erst drei Attentatsversuche auf mich ausgeübt worden sind?", sie stampft wütend auf den Boden. „Erst drei! Einer so erbärmlich wie der andere. Was soll ich denn noch machen, um die Leute gegen mich aufzubringen? Ich habe bereits alle Wochentage außer den Montag abgeschafft. Als das nicht gereicht hat, habe ich jeden Menschen mit den Initialen M.S zum Kriminellen erklärt! Aber nein, nicht einmal das war genug, damit endlich mal jemand anständig versucht, mich umzubringen!"
Sie stampft erneut mit dem Fuß auf und zwar dieses Mal so fest, dass die Lagerhalle zu wackeln beginnt.
„Willst du denn sterben?", flüstere ich. Mein Mund ist trocken.
„Natürlich nicht", Mary Sue verdreht die Augen und wirft mir einen Blick zu als hätte ich gerade eine besonders dämliche Frage gestellt. „Ich bin sowieso viel zu toll zum Sterben."
„Aber wieso willst du dann, dass jemand versucht dich umzubringen?", hake ich nach.
„Weil mir totlangweilig ist!", ruft Mary Sue aus. Ihre Wangen färben sich rot. „Selbst, wenn ich böse bin, bin ich dabei so perfekt, dass es niemand wagt, sich mir in den Weg zu stellen. Seit ich die Weltherrschaft an mich gerissen habe, habe ich nichts anderes mehr zu tun, als Filme und Serien zu schauen!"
Ich rücke meine Brille zurecht. Nun, das erklärt zumindest die Popcornknappheit, von der Pipsi gesprochen hat.
„Ich halte es hier nicht mehr aus", fährt Mary Sue erregt fort. „Nimm mich mit in eine andere Welt!"
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Die Chroniken der durchgeknallten Weltenreisenden
HumorWas passiert, wenn man eine Mary Sue, die lieber Serien schaut, als die Welt zu retten; eine Weltenwandelnde, die Liebesdreiecke vernichtet; und ein ganz normales Mädchen, das von einem (dir vielleicht nicht ganz) Unbekannten gestalkt wird, gemeinsa...