„Name?"
„Keine Ahnung. Ich hab's ihnen schon gesagt: Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in dieser Höhle aufgewacht bin", erwiderte ich. Lüge. Ich kannte meinen Namen. Aber ansonsten hatte ich tatsächlich keine Ahnung, wo ich mich befand oder was mit mir passiert war.
„Natürlich..." Der Mann, der mir gegenüber saß, musterte mich mit hochgezogener Augenbraue. Er glaubte mir nicht. Stattdessen beugte er sich über den Tisch und blickte mir direkt in die Augen.
„Hör zu, es ist nicht das erste Mal, dass jemand wie du sein Schicksal nicht akzeptieren will. Sich in den verbotenen Wurzeln zu verstecken hilft aber nichts. Du hättest sterben können!", zischte er. „Deshalb frage ich dich nun noch einmal: Wie lautet dein Name?"
Ich hatte keine Ahnung von welchem Schicksal dieser Herr da sprach - oder welchen Wurzeln - aber nachdem ich in diesem dunklen Erdgewölbe vorhin aufgewacht bin, konnte es nichts Gutes sein. Ich vertraute ihm nicht. Meinen Namen würde er also auf gar keinen Fall erfahren.
„Du schweigst also lieber..." Stille. Hinter mir der stechende Blick des Kerls, der mich gefunden und ohne Umschweife und Worte in dieses Büro geschleift hatte.
„Na gut, dann dürfte es dich bestimmt freuen zu erfahren, dass dein Name auf dieser netten Liste steht.", sagte der Mann grinsend, auf ein Blatt vor sich tippend. „Und das du es bist, ist sicher, denn du bist der einzige Neuling, der noch nicht abgestempelt wurde, Cassius."
Sein vorwurfsvoller Ton deckte sich mit meiner Verwirrung. Ja, ich hieß wirklich Cassius. Aber wie kam mein Name auf diese Liste? Was für eine Liste war das, und überhaupt, wo bin ich hier gelandet?
So viele Fragen wie jetzt hatte ich nicht mal in meiner Schulzeit. Ich hatte zwar wenig Hoffnung eine Antwort zu bekommen, aber ich musste wissen, was für ein Ort das hier war.
„Entschuldigen Sie, aber ich weiß wirklich nicht was das alles hier soll. Wo bin ich hier?"
„Im Wurzelbaum, daran hat sich immer noch nichts geändert", erwiderte der Mann spöttisch.
Von einem Wurzelbaum meinte ich schon mal gehört zu haben. Allerdings hielt ich sie immer für eine Legende. Nach kurzer Überlegung fielen mir die Details wieder ein. Wurzelbäume waren sogenannte Riesenbäume. Sie hatten unvorstellbare Größen, weitab von jeglichem Bild, das einem beim Wort „Baum" in den Sinn kam. Viele Menschen sollten angeblich sogar in ihnen leben können, da sowohl der Stamm, die Wurzeln als in Teilen auch die Äste hohl waren. Sie existierten dem Mythos nach vorwiegend in den Wäldern Taraks.
Tarak war die Region im Herzen Divesquins. Alleinstellungsmerkmal waren riesige Waldgebiete und im Gegensatz zu allen anderen Regionen gab es keinen Anschluss an ein Meer. Außerdem war Tarak, schon allein aufgrund seiner zetralen Lage, der Hauptsitz der Regierung.
Aber Wurzelbäume? Nein, ausgeschlossen. Die gab es nicht. Unmöglich also, dass ich mich in so einem Teil befinden sollte.
„Sehr witzig", war deshalb meine einzige Reaktion auf das Gesagte.
Anstatt meine Frage doch noch ernsthaft zu beantworten, setzte der Möchtegern-Comedian einen Stempel neben meinen Namen und kramte irgendwelche zusätzlichen Papiere aus einer Truhe neben dem Tisch. Besaßen die hier etwa Akten von mir?!
Jetzt bekam ich doch etwas Angst. Womöglich war dieser Mann ein Wächter. Aber warum sagte er mir dann nicht was Sache war, wo ich mich befand, und warum war ich ein „Neuling"... Ich verstand einfach gar nichts mehr. Es hatte aber auch keinen Zweck mehr Fragen zu stellen, weshalb ich nun einfach wartete. Es würde sich schon noch die Gelegenheit ergeben jemand anderen zu fragen.
Nach einer halben Ewigkeit sah der Mann auf. Sein genervter Blick blieb erst an mir haften, schweifte dann aber zu dem Kerl hinter mir.
„Fionn, bring ihn zu seinem Zimmer. Es liegt oben in den Weißwurzeln und..." Er stockte kurz und schien eine letzte Information auf den Papieren zu suchen. Als er sie fand, vernahm ich ein Zucken in seinen Augenwinkeln, das ich nicht zu deuten wusste. „Erklär' ihm auf dem Weg mal ein paar unserer Regeln."
„Kein Problem, Sir", nickte Fionn und griff nach mir. Aber ich entzog ihm meinen Arm sofort wieder.
„Sie bringen mich nirgendwo hin, bevor ich nicht weiß, was hier abgeht. Mal abgesehen davon: Ich will nach Hause, nicht in irgendein lächerliches Zimmer.", rief ich. Das Fass war für mich kurz vor dem überlaufen, aber niemand ging darauf ein. Im Gegenteil, eine merkwürdige Stille hallte meinen Worten nach und die Blicke der beiden Männer lasteten auf mir.
„Einer wie du ist mir wirklich noch nicht untergekommen. Merkwürdig...", murmelte der Mann irgendwann in meine Richtung. Er wirkte plötzlich sehr ernst, jeglicher Schalk war aus seinem Gesicht verschwunden. Dann drehte er sich zu Fionn: „Ein Heiler sollte ihn morgen mal unter die Lupe nehmen, wenn er noch genauso wirr reden sollte wie jetzt. Mir scheint, als hätte er tatsächlich einige signifikante Erinnerungslücken."
Ich wollte gerade protestieren, dass ich - außer der Tatsache, dass ich nicht mehr wusste, was vor meinem Erwachen passiert war – mich noch sehr wohl daran erinnern konnte wer ich war.
Doch dann erschrak ich plötzlich. Ich bemerkte, dass ich mich nicht mal an meine Familie erinnern konnte. Wie war das noch gleich: Hatte ich einen Bruder oder eine Schwester? Oder beides? Und wo bin ich aufgewachsen?
Es war eine kalte Gegend, frostig kalt. Vor einem inneren Auge sah ich Tannen aufblitzen.
Ich glaube es war ein Ort am Wasser. Bloß sicher war ich mir bei letzterem nicht so ganz.
Trotzdem war ich überzeugt noch nie an diesem Ort oder diesem Büro hier gewesen zu sein, geschweige denn jemals erfahren zu haben was hier vonstattenging. Dafür war die Situation zu ungewohnt.
„Ich werde ihn im Auge behalten", warf Fionn ein und riss mich aus meinen Gedanken. Ich stand so unter Schock, dass ich keinen Einspruch erhob, als er mich zur Tür hinausschob.
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Die Gebundenen
FantasyCassius landet ohne Erinnerung an einem ihm unbekannten Ort. Es handelt sich um eine sonderbare Schule der Regierung, an der teils unmenschliche Gesetze herrschen und jedem Schüler eine Bestimmung zufällt. Als Cassius von seiner erfährt, ist er scho...