Octavian wurde blass. Trotzdem behielt er die Fassung erstaunlich gut.
„Ich habe letzte Nacht nur ein Buch in die Bibliothek zurückgebracht. Ich hatte vergessen es abzugeben. Du kennst mich ja, mein Gewissen hätte mir sonst keine Ruhe gelassen", lachte er und winkte die ganze Sache damit ab. Sein Schauspiel war beeindruckend.
Ich war indes zu einer Salzsäule erstarrt und setzte alles daran, kein Wort zu sagen. Ich hätte nicht so einfach lügen können wie er.
Zudem verstand ich auch nicht ganz, warum Octavian es gerade getan hatte. Zum einen schien Prius zu wissen, wo wir letzte Nacht waren, sonst hätte er wohl kaum gefragt. Auf der anderen Seite schien mir unser Gesprächsthema in Octavians Versteck nicht unbedingt gefährlich. Er hatte mich doch nur über etwas informiert, dass sowieso jeder wusste.
Aber Octavian warf mir in diesem Moment einen Blick zu, der mich daran erinnerte, dass es schon einen Grund hatte, warum er mir diese Infos in seinem Versteck und nicht im Speisesaal gegeben hatte. Nur weil mir dieser Grund im Moment noch nicht einleuchtete, hieß das natürlich nicht, dass es keine Gefahr gab.
Sein Verhalten gab mir dennoch Rätsel auf. Warum sagte er Prius nicht einfach die Wahrheit, wenn dieser sie doch allem Anschein nach sowieso schon kannte?
Nachdem Prius mit einem „Schon verstanden, Kumpel. Hast dir mal wieder eine klar gemacht, was?" abgezogen war, verfinsterte sich Octavians Mine. Überrascht schaute ich zu ihm auf. Das waren ja ganz neue Infos.
„Du hast was?", grinste ich. Sein linkes Auge zuckte nervös.
„Das ist eine andere Geschichte. Und die ist jetzt unwichtig, denn wir haben nun andere Sorgen." Octavian setzte sich in Bewegung und ging eiligen Schrittes Richtung Treppenaufgang. Ich lief ihm hinterher und hatte Mühe mitzuhalten.
„Was für Sorgen denn bitte? Der Kerl wirkte nicht gerade, als würde er dir etwas nachtragen. Er hat offensichtlich kein Problem damit, dass du jemandem etwas über Erhabene, Gebundene und den ganzen Kram erzählt hast."
Für mich war die Sache glasklar und nun ein für alle Mal erledigt. Für Octavian nicht. Vielleicht hatte er Angst, dass Prius rumerzählen würde, was er letzte Nacht mitbekommen hatte. Ich hastete hinter ihm die vielen Stufen hoch.
„Bestimmt wird er es niemandem sagen", japste ich und versuchte ihn damit irgendwie zu beruhigen. Doch Octavian blieb abrupt auf einer Stufe stehen und drehte sich zu mir um. Ich schnappte unterdessen nach Luft, meine Kondition ließ ohne Frage zu wünschen übrig.
„Natürlich nicht. Er wird niemandem etwas sagen, weil er nichts gehört hat. Prius war nicht derjenige, der uns letzte Nacht belauscht hat."
„Aber wie konnte er sonst wissen, dass du letzte Nacht in der Bibliothek warst?", fragte ich.
„Er wusste nicht, dass ich in der Bibliothek war, er wusste nur, dass ich mich nachts 'rumgetrieben' habe."
„Na dann ist doch alles in Ordnung", meinte ich schulternzuckend.
„Nein, Sius. Eben nicht." Ich schaute ihn stirnrunzelnd an und versuchte zu begreifen, was er andeutete.
„Du meinst, die Person, die uns belauscht hat, hat Prius davon erzählt."
Octavian nickte.
„Genau. Allerdings hat dieser Jemand ihm keine Details genannt, sonst hätte Prius sie erwähnt."
„Welchen Zweck hat das Ganze dann? Warum sollte jemand ihm nur andeutungsweise davon erzählen?"
„Prius ist einer der wichtigsten Redakteure des „Immergrünen Botschafters", unserer Schulzeitung. Diese Zeitung und insbesondere Prius' Artikel sind sogar überregional bekannt. Er schreibt verdammt gut und Leute in ganz Divesquin interessieren sich für das, was er veröffentlicht, weil es sich oft um sehr brisante Themen handelt."
Es erschloss sich mir zwar nicht, wie einer wie Prius, der den Wortschatz eines Apfels hatte, gut im Schreiben sein konnte, doch stattdessen ging mir endlich das Licht auf, dass Octavian schon die gesamte Zeit über dem Kopf schwebte.
„Das war eine Warnung, richtig? Die Person wusste, dass Prius dich darauf ansprechen würde, weil er immer nach irgendeiner Schlagzeile sucht. So konnte sie uns hintenrum mitteilen, dass sie uns belauscht hat."
„Ja, leider. Dabei hatte ich bis vorhin noch die leise Hoffnung, dass es sich letzte Nacht doch nur um einen verschreckten Neuling auf Nachtwanderung gehandelt hat. Aber die Person, die uns gehört hat, weiß offenbar, was sie mit ihrem Wissen anstellen kann."
Mir platzte bald der Kragen, denn ich wusste immer noch nicht, was an Besprochenem so schlimm sein sollte. Erhabene und ihre Gebundenen waren offensichtlich ein ziemlich präsenter und nur schwerlich zu übersehender Teil der Gesellschaft. Im Gegenteil, laut Octavian kamen ihnen ja sogar unsagbar viele Privilegien zu.
„Schön... Darf ich dann vielleicht erfahren, was denn nun so gefährlich an all dem ist?" Ich hasste es langsam, immer nur Fragen stellen zu müssen, aber selbst nie Antworten geben zu können.
Octavian stellte kurz sicher, dass sich gerade niemand außer uns im Treppenaufgang befand. Dann fragte er mit gesenkter Stimme: „Weißt du noch, wie ich die Macht der Erhabenen über Gebundene als Sklaverei bezeichnet habe?"
Ich überlegte kurz und nickte dann.
„Ich habe dieses System negativ bewertet und in Frage gestellt, anstatt dich neutral darüber zu informieren. Damit habe ich das in Frage gestellt, was seit Ewigkeiten den Frieden und die Freiheit in Divesquin sichert."
„Aber man darf doch wohl noch etwas hinterfragen? Schließlich gehört das zur Freiheit dazu."
„Du verstehst das falsch. Die Situation mit den Erhabenen und Gebundenen zu kritisieren ist, als würdest du die Freiheit selbst kritisieren. Zudem habe ich nicht nur hinterfragt, sondern verurteilt. Jedem, der mir zugehört hat, wird das klar sein."
Wenn ich so darüber nachdachte, verstand ich was er meinte. Er hatte etwas sehr scharf verurteilt, obwohl es eigentlich nur dem Glück jedes Einzelnen diente.
Niedergeschlagen fügte Octavian hinzu: „Das was ich gemacht habe, steht unter Strafe. Die Wächter ahnden Äußerungen dieser Form als Verrat an unserem Freiheits-Konzept."
Das schockierte mich. Verrat war eine der schlimmsten Tatbestände in Divesquin. Soweit ich wusste, drohte bei einer Verurteilung eine Verbannung nach Than. Than war eine weit vom Festland entfernte, kleine Insel im Süden, auf der es schwül war, es die gesamte Zeit über nur regnete und alles im Matsch versank.
„Verrat wegen einer Äußerung? Ist das nicht etwas extrem?"
„Erstens war die Äußerung sehr deutlich. Zweitens weißt du ja wohl, dass Freiheit und Frieden in Divesquin über allem stehen." Er wandte seinen Blick ab und ein drückender Schmerz legte sich in sein Gesicht. „Und die Tatsache, dass du bei mir warst, und du-" Mir war auf der Stelle bewusst, was er sagen wollte, also beendete ich seinen Satz.
„Ich habe das Ganze als menschenverachtend bezeichnet." Octavian nickte und legte mir einen Finger an die Lippen. Ich bemerkte erst jetzt, dass meine Stimme vor lauter Aufregung in die Höhe geschossen war.
Panik machte sich in mir breit. Die mysteriöse Person hatte unser gesamtes Gespräch belauscht. Sie hatte Informationen, die unsere Leben ruinieren könnten und war offensichtlich bereit diese gegen uns einzusetzen. Fragend blickte ich Octavian an.
„Was machen wir jetzt?"
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Die Gebundenen
FantasyCassius landet ohne Erinnerung an einem ihm unbekannten Ort. Es handelt sich um eine sonderbare Schule der Regierung, an der teils unmenschliche Gesetze herrschen und jedem Schüler eine Bestimmung zufällt. Als Cassius von seiner erfährt, ist er scho...