Auf dem Rückweg zum Eingangsbereich hatte Octavian im Gegensatz zu mir nur noch den ungebetenen Gast im Kopf. Ununterbrochen schmiss er mit wilden Spekulationen um sich. Selbstverständlich kannte ich dabei keinen einzigen der Namen, die er in seinem Redefluss erwähnte. Außerdem war ich nach wie vor der Meinung, dass es sich bei der Person auf dem Gang höchstens um einen verschreckten Frühaufsteher gehandelt hat, der nichts weiter als ein Buch für irgendein vergessenes Unterrichtsfach gesucht hat und panisch die Flucht ergriffen hat als er unsere Stimmen hörte. Dabei hatte er einfach ausversehen ein paar Bücher aus den Regalen gefegt. Das war meine Erklärung der Dinge und damit war das Thema zumindest für mich auch abgehakt.
In der großen Empfangshalle trennten sich unsere Wege und ich versprach Octavian ihn später am Eingang zur Tausendlichtergrotte zu treffen. Dort würde die Erstversammlung und offizielle Begrüßung der Neulinge stattfinden, was mich in vorfreudige Aufregung versetzte. Ich hatte mir vorgenommen alles, was mir Octavian vorhin erzählt hatte, beiseite zu schieben. Er hatte schließlich Recht: man konnte an der ganzen Sache nichts ändern und im Grunde dienten diese Gesetze auch nur der Sicherheit aller. Also auch meiner eigenen. Trotzdem wollte ich die Bibliothek, sobald ich konnte, wieder aufsuchen. Bei dieser umfangreichen Büchersammlung würde es mich wundern, wenn es nicht auch eine Abteilung für Ahnenforschung gab.
Nun begab ich mich aber erstmal in den Speisesaal, um frühstücken zu gehen. Mein Hunger wurde durch den Duft frischer Speisen hervorgelockt.
Der Saal war in einfallendem Morgenlicht genauso hübsch wie gestern Abend. Einzig die Temperatur ist um gefühlte fünfzig Grad gestiegen. Es war heiß, und das im Bauminneren während den Morgenstunden. Diese Temperaturen war ich nicht gewöhnt, denn dort wo ich herkam war es kalt. Eiskalt.
Nachdem ich mir eine Schüssel Kornblumenpaste genommen hatte, suchte ich mir einen Tisch auf einer der höheren Ebenen, von wo aus ich fast den gesamten Saal gut im Blick hatte. Die Empore mit den Erhabenen ignorierte ich geflissentlich, was auch nicht schwer war, da sie weit über meinem Blickfeld lag.
Der Saal füllte sich nach und nach mit immer mehr Schülern. Ich beobachtete interessiert, wie sie sich in Grüppchen verteilt an den Tischen verstreuten. Nicht weit von mir unterhielt sich ein Junge über seine Hände mit seinen Tischgenossen. Ihre stumme Unterhaltung verstand ich nicht, doch sie wirkte lebendig und angeregt. Weiter unten im Saal sah ich lachende Frauen in bunten Gewändern, die mit einigen grazilen Bewegungen über das Holz ihres Tisches strichen. Sie versuchten sich gegenseitig darin zu überbieten, wer die schöneren Blüten wachsen lassen konnte. Von ihrem außergewöhnlichen Talent fasziniert, bemerkte ich die Schatten hinter mir nicht.
„Sieh mal einer an! Wenn das nicht der selten dumme Zwerg ist, der mich gestern um meine Stelle als Schwarztorwache gebracht hat." Dem Satz folgte ein heftiger Schlag auf die Schulter.
Vor Schreck ließ ich meinen Löffel in die Paste fallen und der blaue Brei verteilte sich in Spritzern über meine Kleidung und das Gesicht meines Hintermannes. Die zynische Stimme war unverkennbar. Fionn.
„Wie süß... Kornblumenpaste. Hätte nicht gedacht, dass du noch tiefer sinken kannst", spottete er. Die Spitzen gegen meine Körpergröße hatte ich nicht überhört. Meine Gesichtsmuskeln spannten sich an, als ich mir mit meinem Handrücken übers Gesicht fuhr und mich gereizt umdrehte.
Hinter Fionn standen noch drei weitere Typen. Großartig, er hatte also auch noch seine Gefolgschaft im Schlepptau.
Der erste war ein ernst dreinblickender Variant, dessen feminine und maskuline Gesichtszüge dementsprechend aufeinandertrafen. Seine rotbraune Robe war in schlichtem Ton gehalten, ohne viel Drumherum oder irgendwelche glitzernden Einstickungen. Stattdessen prangte eine goldene Anstecknadel an seiner Brust. Sie hatte die Form eines Windstrudels, in dessen Mitte ein vielzackiger Stern zu erkennen war. Ich hatte jedoch keinen Schimmer für was dieses Symbol stand.
Zu Fionns Linken stand dagegen ein junger Mann mit auffälligem, tiefschwarzem Haar, das ihm offen über die Schultern fiel. Im Gegensatz zur anderen Person, war seine Kleidung heller und umso ausgeschmückter. Er trug einen leichten sandfarbenen Umhang, verziert mit kleinen Perlen. Doch trotz dieser eigentlich freundlichen Farbe der Bekleidung, hatte der Kerl eine furchtbar frostige Ausstrahlung. Dies kam nicht zuletzt von seinem stechenden Blick, mit dem er mich taxierte.
Der letzte des Gefolges trug, wenn mich nicht alles täuschte, diesselbe Rüstung wie Fionn und sah Blondi auch sonst recht ähnlich.
„Was willst du von mir?"
„Was willst du von mir...", äffte Fionn mich nach. „Dank dir habe ich meinen Wachposten in den Schwarzwurzeln verloren, du Idiot!"
„Das wusste ich nicht und dafür kann ich auch nichts. Und es wäre echt nett, wenn du mal aufhören könntest, mich in jedem Satz zu beleidigen. Ich habe dir nichts getan."
„Du hast keine Ahnung, was du getan hast", warf der zweite Kerl in bedrohlichem Ton ein. Seine Präsenz und seine scharfe Stimme jagten mir einen Schauer über den Rücken. „Und du wärst gut beraten uns nicht mehr in die Quere zu kommen."
„Soweit ich weiß seid ihr diejenigen, die mich hier gerade belästigen."
„Werd' bloß nicht frech. Du sollst dich zurücknehmen. Hast du das verstanden, Kleinhirn?"
Die vier blickten auf mich herab wie auf ein niederes Wesen. Ich war ziemlich perplex und merkte, dass meine Versuche, die Beleidigungen zu ignorieren, kläglich scheiterten. Ich hatte seit meiner Ankunft alles getan, um mich irgendwie an diesem Ort zurechtzufinden und da lag es mir schließlich nicht im Entferntesten daran, jemanden gegen mich aufzubringen. Aber anscheinend brauchten manche Menschen einfach keinen Grund. Sie hassten andere einfach.
Ich hatte jedenfalls genug von diesen Typen und wollte mir sowas nicht gleich zu Anfang bieten lassen. Also stand ich abrupt auf und trat dabei den Baumstumpf, auf dem ich gesessen hatte, grob nach hinten. Er fiel um, aber der Boden war moosbedeckt und so erregte ich kaum irgendwelche Aufmerksamkeit.
„Ihr seid doch nicht ganz dicht", zischte ich und drückte mich verärgert am Fionn-Klon vorbei. Dieser war im Begriff mich festzuhalten, doch aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie Fionn ihn mit einer Geste zurückhielt. Alle vier schauten mir mit finsteren Minen nach, einer schlimmer als der andere. Fionn und der Schwarzhaarige machten den Anschein als würden sie mich jeden Moment umbringen wollen.
Ich kehrte ihnen den Rücken zu, stieg ich die vielen Anhöhen hinab und schlängelte mich zwischen den vielen Tischen und Schülern hindurch Richtung Ausgang. Mir war der Appetit für diesen Morgen gründlich vergangen.
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Die Gebundenen
FantasyCassius landet ohne Erinnerung an einem ihm unbekannten Ort. Es handelt sich um eine sonderbare Schule der Regierung, an der teils unmenschliche Gesetze herrschen und jedem Schüler eine Bestimmung zufällt. Als Cassius von seiner erfährt, ist er scho...