Kapitel 11

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Alle in der blauen Knospe wurden still und starrten Octavian fassungslos an. Dieser wurde rot und drehte sich wieder Richtung Wasserfall.

„Mach' dir nichts draus. Du hast ihm nur klar gemacht, dass es nicht in Ordnung ist, so zu prahlen."

Ich wollte ihn mit dieser Aussage eigentlich irgendwie aufmuntern, doch Octavian schaute mich nur irritiert an.

Bevor es noch zu weiteren Auseinandersetzungen kommen konnte, sprangen auf einmal die Karten, die uns allen im Vorraum gegeben wurden, auf. Ihre Versiegelungsringe brachen auf und, wie in von einem Windstoß erfasst, flogen sie aus den Knospen heraus, hinein in das große Gewölbe der Grotte. Sie sammelten sich als großer, schwebender Papierhaufen über dem Felsen an. Lady Amell trat unter ihm hervor und gab ein heiteres Lachen von sich.

„Divesquin ist eine unwahrscheinlich große Welt. Noch immer gibt es unentdeckte Ecken und die Bevölkerung lebt in sieben völlig verschiedenen Regionen." Sie zeichnete einen Kreis in die Luft und die Karten stoben auseinander. Jede einzelne nahm einen grellen, orangenen Schein an. Dann ordneten sie sich neu an und ergaben zusammen eine große, leuchtende Weltkarte. Ich staunte als, passend zu dem was die Schulleiterin erklärte, schattenartige Projektionen über die zusammengesetzte Karte Divesquins huschten. Noch nie zuvor hatte ich solche Zauber gesehen. Als ich zu Octavian rübersah, bemerkte ich ein Strahlen in seinen Augen. Was auch immer das für ein Lager war, ich wünschte ihm wirklich, dass er dort aufgenommen werden würde. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass das sein größter Traum war.

„Vom grünen Tarak, dem kalten Ayaz, über das heiße Salsem, bis hin zum tropischen Xotrix. All das bedeutet, dass jeder Mensch in einer anderen Umgebung aufwächst. Und jede Umgebung hat ihre eigene Geschichte, Besonderheiten und eine andere Kultur. Trotzdem wollen wir uns alle verstehen, miteinander handeln und in Frieden leben." Frieden war ein Wort, das diese Schulleiterin anscheinend sehr mochte. Ich musste mir ein Lachen verkneifen.

„Dazu braucht diese Welt Menschen, die sich nicht davor scheuen, neue Wege zu gehen! Freigeister, die Menschen besser zu verstehen wissen als alle anderen. Offene Personen, die fremden Kulturen hochtolerant gegenüberstehen. Menschen, mit einer besonderen Entdeckergabe und überragendem Orientierungssinn. All jene gehören in das Lager der Orangenen!"

Auf der Karte erschienen die Schatten berühmter Kundschafter, Diplomaten und Botschafter. Auch mir waren ein paar Gesichter und ihre Geschichten nur allzu gut bekannt.

Als eine hochgewachsene Frau mit einem silbernen Brief in der Hand gezeigt wurde, ging ein Jubeln durch die Knospen. Octavian sprang auf und begann laut zu applaudieren. Seine begeisterten Rufe wirkten wie die eines Menschen, der entschieden zu viel Zeit in der Geschichtsabteilung der Bibliothek verbracht hatte.

Die Frau hieß Kalev Sisiris und war eine Legende. Sie war eine Botschafterin gewesen und hatte vor über fünfhundert Blütenzyklen dafür gesorgt, dass Divesquins Bevölkerung sich nicht gegenseitig niedermetzelte, indem sie es schaffte einen scheinbar unwichtigen Brief eines Kindes vom Norden in den Westen zu überbringen. Der Weg war lang, dunkel und sie überstand ihn unter beinahe unmöglichen Vorraussetzungen, nur mithilfe ihrer unglaublich guten Orientierung und Menschenkenntnis. Der Brief gelangte durch sie letztlich zu einer mächtigen Person, die den Handel innerhalb Divesquins aufgrund von tiefer Bitterkeit über ihre eigene Vergangenheit zurückgehalten hatte. Als diese Person den Brief las, erkannte sie ihre Fehler und öffnete die Handelstore des Westens. Die anderen Regionen zogen nach und der Hass der Bevölkerung aufeinander nahm endlich ab. Überall konnten die Menschen auf einmal ihr Leben so leben, wie sie es wollten, und niemand musste mehr durch Hunger oder fehlende Hilfe sterben. Zusammen entwickelten alle ein zentral gesteuertes System, dass den Frieden für immer absichern sollte. Eine perfekte Welt! Und nur dank eines Kinderbriefes und einer furchtlosen Frau.

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