Die Gebundenen

Kapitel 10

„Das ist Lady Amell, die Leiterin der Ductrix-Akademie", hauchte Octavian. „Man munkelt, sie hätte nicht nur eine besondere Fähigkeit, sondern hundert! Sie war sogar selbst einmal Schülerin hier."

„Welches Lager?"

„Gelb."

„Still jetzt!", fauchte ein Neuling hinter uns.

Ich hatte keine Ahnung, welche Aufgaben und Merkmale den Gelben zukamen, aber ich war mir sicher, dass ich bald mehr wissen würde. Octavian hatte mich gestern zudem noch darüber aufgeklärt, dass wir bei dieser Versammlung auch unsere Kurspläne bekommen würden. Unruhig trommelte ich auf dem Geländer herum und wartete darauf, dass die Schulleiterin ihre Ansprache endlich beginnen würde.

Der Raum wurde augenblicklich totenstill, als eine kräftige Stimme das aufgeregte Quasseln durchschnitt. Nur noch das stetige Rauschen des Wasserfalls war zu hören.

„Guten Morgen, Schüler!" Lady Amell lächelte überraschend freundlich in die Runde. „Wie ich sehe seid ihr alle wohlauf und es freut mich euch endlich offiziell begrüßen zu dürfen, nachdem gestern auch der letzte von euch angekommen ist."

Octavian gab mir einen Stoß und ich verdrehte nur die Augen.

„Diese Akademie ist die renommierteste Schule Divesquins. Hier werden nur die Menschen aufgenommen, denen ein ganz besonderes Schicksal bevorsteht. Auch wenn sie bei vielen von euch noch nicht offensichtlich sind: Ihr habt alle besondere Fähigkeiten, die wir in jedem Einzelnen in den nächsten Wochen wecken werden. Sie werden euch und dieser Welt helfen zu wachsen und sich zu entwickeln." Sie machte eine ausladende Geste gen Himmel. Dann lief sie zum Rand des Felsens, auf dem sie stand.

„Nach den ersten Wochen Unterricht werden wir einschätzen können, wo eure großen Stärken liegen und jeden in eines unserer fünf Lager einteilen." Lady Amell beugte sich zum Wasser.

„Manche von euch können zaubern und durch eine einzige Berührung Neues erschaffen." Sie schloss die Augen und tippte die Wasseroberfläche sanft an. Ein helles Licht breitete sich langsam im See aus und ein Raunen ging durch die Schüler. Das Licht erreichte selbst die Spitze des Wasserfalls und die Grotte wurde in gleißendes, goldgelbes Licht getaucht.

„Menschen, die ein Talent haben alte Traditionen zu brechen und durch Kreativität, Magie und Erfindungsgeist etwas zu kreieren werden im gelben Lager willkommen geheißen. Das Lager der Schöpfer." Sie schenkte einigen Schülern ein wissendes Lächeln und berührte das Wasser abermals. Das Licht zog sich sachte zurück und alles sah wieder wie vorher aus.

Dann schritt die Schulleiterin zur Mitte des Felsens, wo sie ihr Kleid zurücknahm und sich im Schneidersitz auf den Boden setzte. Das kam etwas unerwartet. Ihr aufwendig geflochtener Zopf fiel nach vorne und erst nach einigen Sekunden angespannter Stille sprach sie weiter.  

„Andere unter euch haben eine einzigartige Bindung zu der Natur. Ihr denkt jetzt vielleicht, dass das nichts Besonderes ist, da fast jeder Mensch in Divesquin mit seiner Umgebung in Harmonie lebt. Doch ihr täuscht. Es ist ein Unterschied, ob ihr ihr nur mit ihr 'mitlebt' oder sie wirklich versteht."

Daraufhin flüsterte sie ein paar Namen, die ich nicht genau verstand, und klopfte vier Mal auf den Stein. Wie auf Kommando regte sich das Wasser und ein Schwarm grüner Fische versammelte sich um den Felsen. Sie leuchteten auf und in dem Moment vernahm man dutzende Flügelschläge aus einem der Tunnel am Rand. Alle Neulinge reckten ihre Hälse, um erkennen zu können was dieses Geräusch verursachte.

Eine Schaar Flattersegler strömte von draußen in den Saal. Sie flogen in hoher Geschwindigkeit zwischen uns Schülern und den Knospen hindurch. Einer umkreiste sogar meinen Kopf und harrte dann einige Sekunden vor mir in der Luft aus. Er betrachte mich mit seinen großen Augen und erst als ich meine Hand nach seinem Kopf ausstreckte, machte er einen Satz nach hinten und huschte davon. Es war das erste Mal, dass ein Flattersegler mir so nahegekommen war. Sie waren für gewöhnlich sehr scheu.