Kapitel 7

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„Was sind denn Gebundene?", fragte ich gequält. Dieses Aufklärungsgespräch schien kein Ende zu nehmen. Und so wenig wie ich vor vierundzwanzig Stunden noch von Erhabenen wusste, so wenig hatte ich in meinem Leben von Gebundenen gehört. Zumindest erinnerte ich mich an nichts.

Octavian schien meine Frage erwartet zu haben. Doch er blieb absolut ruhig und bevor er mir antwortete, stand er noch auf und holte sich ein Wasserglas aus einem schmalen Schrank. Er füllte es mit Wasser aus einem kleinen Kanister und fragte mich, ob ich auch etwas wollte. Dann kehrte er sehr gemächlichen Schrittes wieder zu seinem Platz zurück und stellte mir, obwohl ich eigentlich verneint hatte, ebenfalls ein volles Glas hin.

„Du erinnerst dich ja an den rothaarigen Jungen gestern, nicht wahr?", hakte Octavian nach.

Ich nickte.

„Das ist ein Gebundener."

Diese in den Raum gestellte Aussage ließ in mir eine wage Vermutung aufkommen. Eine sehr ungute Vermutung... Und sie verfestigte sich, je mehr Sekunden der Stille verstrichen. Aber ich wollte sie nicht aussprechen, in der Hoffnung, dass Octavian mir vielleicht noch eine bessere Auskunft gab.

Doch Octavians Gesicht sprach Bände. „Also du ahnst es wahrscheinlich schon, aber ich fange trotzdem besser einmal von vorne an." Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Zusätzlich zu den Privilegien und der rechtlichen Sonderstellung, ist die Regierung noch einen Schritt weiter gegangen, um sich und Divesquin vor der Macht der Erhabenen zu schützen. In extra dafür angelegten Tests stellten sie fest, dass sich der Drang nach Kontrolle der eigenen Fähigkeiten ausgleichen lässt, wenn der Betroffene stattdessen freie Verfügung und Kontrolle über ein Lebewesen gleicher Stufe hat." Der letzte Satz klang, als hätte Octavian ihn direkt aus dem Gesetzbuch auswendig gelernt.

„Und weißt du, wen sie mit Lebewesen auf gleicher Stufe meinen?", fragte Octavian mit eiskalter Stimme. Er klang einigermaßen beherrscht, aber in seinen Augen flammte Wut auf.

„Menschen!", zischte er. Dann fuhr er verbittert fort: „Jeder Erhabene bekommt nach einiger Zeit hier eine Person zugeteilt, die selbst kein Erhabener ist, aber ihrem "Besitzer" in Kerneigenschaften ähnlich sieht. Diese Person ist dann ein Gebundener und ihr Leben ist damit rechtlich einer anderen Person verschrieben. Ein Gebundener muss tun, was sein Erhabener will und dieser darf alles mit ihm tun. Naja, außer ihn umzubringen. Und falls du jetzt denkst, dass das an Sklaverei erinnert...", Octavian sog scharf die Luft ein, „dann hast du absolut recht. Es ist Sklaverei, nur legal."

Obwohl ich mit dieser Antwort gerechnet hatte, schockierte es mich, sie direkt zu hören. Schwarz auf Weiß. Mein Kartenhaus der Hoffnung war nun tatsächlich zusammengefallen und es tat weh.

Wenn es nämlich eine Institution in Divesquin gab, der ich mein Leben lang vertraut habe, dann war es die Regierung. Ich habe irgendwo im Norden gelebt, weit weg, und es gab dort selten Probleme und nie Krieg. Ich hatte immer Vertrauen in die Führung dieser Welt. Meine bisherige Hoffnung hatte seit meiner Ankunft hier darauf gebaut, mithilfe der Regierungsmitglieder, ihrer Akten und ihrem Wissen meine Familie und mein Zuhause wiederzufinden. Das konnte ich nun vergessen. Mit ziemlicher Sicherheit waren sie auch Schuld daran, dass ich bestimmte Erinnerungen einfach komplett verloren habe. Wer solche Gesetze erlässt schreckt vor keiner Tat zurück und dem war auch nicht mehr zu vertrauen.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Octavian... Ich kann das alles noch nicht wirklich fassen und erst recht nicht glauben. Das ist einfach nur menschenverachtend." Ich blickte zu Boden, doch bevor der Raum abermals in eine angespannte Stille gehüllt wurde, schoss mir noch eine Frage durch den Kopf. Mir war zwar klar, dass Octavian kein wandelndes Lexikon war, und noch dazu gerade in einer äußerst erregten Verfassung, doch diese Frage konnte ich einfach nicht zurückhalten.

„Warum weiß davon niemand etwas? Warum wusste ich nie etwas davon?"

Mein Gegenüber lachte auf, allerdings kein echtes Lachen. „Denkst du die hängen sowas an die große Glocke? Sowohl die Regierung als auch die Erhabenen selbst haben großes Interesse daran, dass das alles schön unter der Oberfläche gehalten wird. Man möchte keinen Unfrieden, keinen Aufruhr oder gar Rebellionen. Es gibt zudem nur wenig Erhabene und Gebundene, was allein schon von diesem Thema ablenkt. Und die Menschen, die davon erfahren, sind meist einverstanden und halten das Vorgehen der Regierung oft nicht nur für nachvollziehbar, sondern sogar für notwendig."

Ungläubig starrte ich Octavian an. Dieser nickte und zuckte dann die Schultern. Er verlor seinen bedrückten Blick langsam, als würde er sich eine Maske überziehen.

Dann meinte er: „Das alles ist leider so und mich macht es, wie du sehen kannst, auch sehr wütend darüber nachzudenken. Deshalb habe ich gelernt, eine persönliche Distanz zu diesem Thema hier zu gewinnen, wie es alle tun. Und das solltest du auch, Cassius. Das ist zu deiner eigenen Sicherheit und Gesundheit, glaub mir!"

„Aber-"

„Wirklich, Cassius. Wir sind aus einem ganz besonderen Grund in Ductrix und werden bald unsere Bestimmung finden. Lass uns den Fokus darauf legen und die Zeit einfach genießen!"

Da hatte er Recht. Und ich hätte lügen müssen, um zu sagen, dass ich mich nicht auch schon auf den Unterricht und die Trainingseinheiten in den verschiedenen Bereichen freute. Ich war neugierig, was alles auf uns zukommen würde, was ich lernen würde und hoffte gleichzeitig herauszubekommen, woher und wie ich an diesen Ort gekommen war. Dazu wollte ich unbedingt wissen, in welchem Sektor meine Stärke lag.

„Stimmt, wenn man mal aus dieser Perspektive auf das alles schaut... Ich bin gespannt, wo man uns einordnet. Vielleicht sogar in derselben Gruppe."

Octavian nickte begeistert. „Dann könnten wir zusammen Erkundungspläne kreieren und durch Divesquin streifen. Auf der Suche nach neuen Orten und unentdeckten Völkern versteht sich."

„Du willst zu den Kundschaftern?", bemerkte ich. In diesem Moment realisierte ich, wie wenig ich bisher eigentlich über Octavian wusste. Außer seinem Namen war das nämlich nicht wirklich viel. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um das zu ändern und gleich einmal tiefer graben.

„Allerdings! Ich habe schon ein paar Freunde bei den Orangenen und die haben wirklich die besten Leute. Außerdem sind-"

Plötzlich hörten wir vor dem Raum, in dem wir saßen, ein lautes Poltern. Wir zuckten zusammen und Octavian sprang auf und begann eine Laterne nach der anderen auszupusten. Ich zögerte nicht lange und tat es ihm eilig gleich.

Danach harrten wir eine ganze Weile lang, Rücken an Rücken, regungslos in der Dunkelheit aus. Ich schloss die Augen. Es kam mir vor, als würde uns der Sauerstoff ausgehen und der Raum sich von Minute zu Minute zunehmend verkleinern, bis er uns in absehbarer Zeit zu zerquetschen drohte.

Ich hielt mich selbst dazu an rational zu denken, ruhig zu bleiben und bloß nicht auszuflippen, aber es wurde immer schwieriger.

Ich begann unruhig zu werden und spätestens dann war mir klar, dass ich sofort von diesem Fleck wegmusste, sonst würde alles aus mir herausbrechen. Ich drehte mich zu Octavian um. Dieser saß immer noch stocksteif da und versuchte offenbar bloß keinen Ton von sich zu geben. Ich zog grob an seinem Ärmel.

„Octavian, lass uns verschwinden. Wer auch immer das da draußen war, ist jetzt schon längst wieder weg. Jemand, der in diese verlassenen Bibliotheksgänge findet, hat sich einfach nur verlaufen", flüsterte ich.

„Nein, Cassius. Jemand, der in diese verlassenen Bibliotheksgänge findet, weiß ganz genau, was er dort sucht."

Die GebundenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt