Kapitel 2

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Nachdem die Tür durchschritten war, befanden wir uns in einer Art Tunnel. Fionn markierte gerade noch etwas auf einer für mich unübersichtlichen Karte, was mir einige Sekunden gab mich umzuschauen.

Die Wände des Ganges waren nicht aus Stein oder Erde, wie man es von unterirdischen Gängen erwarten würde, sondern aus hellem, geriffeltem Holz. Hübsche Steinplatten bildeten den Boden und von der Decke hingen, immer in einigen Metern Abstand, Laternen. Sie gaben erstaunlich viel Licht ab und sorgten für eine freundlichere Atmosphäre als in dem halbdunklen Büro des Wächter-Typen, welches sich mehr wie ein Verhörzimmer angefühlt hatte. Nicht weit von meinem Standort trennte sich der Weg in zwei Hälften und ich konnte zwei Treppen erkennen, von denen eine nach oben und eine nach unten führte.

„Wir müssen nach rechts, dann die Treppe rauf", sagte Fionn. Offenbar hatte er fertig markiert, was er markieren wollte. Er klang nicht sonderlich begeistert darüber, mich zu „meinem" Zimmer bringen zu müssen.

„Bist du da festgewachsen? Komm jetzt!", rief Fionn mir zu, der schon ein paar Schritte vorgelaufen war. Der junge Mann schien nicht viel älter als ich, war aber wirklich kein Sympathieträger. Seufzend trottete ich ihm hinterher.

Im oberen Stockwerk traten wir in einen riesigen Saal. Dieser war kreisrund und prächtig. Viele weitere offene Türen gingen rundherum von ihm ab und zwischen ihnen standen große, weiße Statuen.

Es herrschte ein lebhaftes Treiben im Saal. Dutzende junge Menschen in meinem Alter tummelten sich hier, durchquerten den Raum oder sprachen miteinander. Alle trugen aufwändig gestaltete Kleidung. Was mir jedoch sofort ins Auge fiel, war die farbliche Gestaltung. Fast jeder schien seine Garderobe in einer einheitlichen Farbe zu halten. Sehr ästhetisch wie ich fand, jedoch zugleich ziemlich verwunderlich. Nur einige wenige trugen farblich gemischtere Kleidung. Zum wiederholten Male stellte ich mir heute die Frage, was hier eigentlich vor sich ging.

Fionn hatte währenddessen anscheinend gerade einem Wächter klar gemacht hatte, warum ich so „inakzeptabel gekleidet" herumlief, und dass es jetzt seine Aufgabe war den „Neuling" – mich – einzuweisen. Nun drehte er sich wieder zu mir und meinte: „Wir werden jetzt zu deinem Zimmer gehen, dort erkläre ich dir die wichtigsten Regeln und dann kannst du dich erstmal ausruhen. Ich glaube das hast du nötig."

Es war mir nicht ganz klar, ob das nun bissig oder fürsorglich gemeint war, aber ich hatte sowieso keine andere Wahl als Fionn abermals zu folgen.

Viele Treppen später standen wir vor einer kleinen Holztür. Ihre dunkle Farbe hob sie gut hervor und Fionn öffnete sie mit einem glänzenden Schlüssel. Er trat ein und bedeutete mir, dasselbe zu tun.

Mir blieb der Mund offen stehen. Das Zimmer, falls man es überhaupt so nennen konnte, war zwar klein, aber wunderschön. In einem Winkel stand ein Bett aus dunklem Holz, in einem anderen ein kleiner Tisch. Außerdem gab es einen weißen Teppich und an der einen Seite befanden sich ein Sessel und ein Regal mit ein paar Büchern. Gerade wollte ich hinüberlaufen, um zu schauen, was für Bücher das waren, doch da hatte ich die Rechnung ohne Fionn gemacht.

„Halt, setz dich besser da drüben hin", sagte er und deutete auf einen der Stühle. Das war offensichtlich keine Bitte, sondern ein Befehl.

Widerwillig schnaubend setzte ich mich – schon wieder. Aber wenn er mir jetzt die „Regeln" erklärte und ich zuhörte, würde ich möglicherweise auch endlich erfahren, was eigentlich genau los war.

„Erstmal musst du wissen, dass alle Neulinge Weiß tragen. Da dahinter", sagte er und zeigte auf einen weißen Seidenvorhang, „findest du deine Kleidung. Sie wird dir schon passen, da musst du dir also keine Sorgen machen. Des Weiteren gibt es morgen früh eine Pflichtversammlung für alle neuen Schüler -"

„Schüler? Ist das hier eine Schule?", unterbrach ich ihn verwirrt. Fionn starrte mich entgeistert an. Eine Strähne seines blonden Haares fiel aus seiner perfekten Frisur und er sog einmal scharf die Luft ein.

„Du weißt wirklich nichts über diesen Ort, oder?"

„Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Aber... das verstehe ich nicht. Jeder, der in diese Akademie aufgenommen wird, wird davon vorher in Kenntnis gesetzt."

„Was für eine Akademie denn?", wollte ich wissen. Fionn stöhnte und fing an, an seinem Dolch herumzuspielen, den er offenbar schon die gesamte Zeit, ohne meine Kenntnis, mit sich getragen hatte.

„Die Ductrix-Akademie. Diese Schule ist eine besondere Einrichtung der Regierung und befindet sich im Kronenwald von Tarak. Sie ist eine lebende Legende."

Fionns Blick traf meinen und dessen Kälte sprach Bände. Ich wusste nichts von dieser Einrichtung, folglich sollte ich seiner Meinung nach wohl auch nicht hier sein.

Aber schnell waren zumindest Teile der Kälte wieder aus seinen Augen gewichen. Ich meinte sogar so etwas wie Reue – falls das für einen wie ihn überhaupt möglich war - erkennen zu können. Mein Name stand schließlich auf der offiziellen Liste der Neulinge, ein Fehler war da ausgeschlossen.

Eine Schule der Regierung also. Ich war ein Stück weitergekommen. Aber das reichte mir noch nicht, auch wenn ich wahrscheinlich kurz davor war Fionn wahnsinnig zu machen.

„Und worin genau liegt der Sinn dieser Schule? Rechnen kann ich nämlich gut genug. Um genau zu sein bin ich gerade durch mit der Schule und habe absolut nicht das Bedürfnis diese Zeit zurückzuholen."

Ich konnte mich zwar aktuell nicht bildhaft an meine Schulzeit erinnern - danke, Erinnerungslücken! -, aber ich wusste, dass ich die Schule vor kurzem beendet hatte und nicht unglücklich darüber war. Ach, wie sehr hoffte ich, dass die Erinnerungen an mein Leben so schnell wie möglich zurückkehren würden. Ich hasste diese schwammigen Fetzen einfach.

Fionn war unterdessen auf meine Frage hin entnervt aufgestanden und schaute nun auf mich herab. Wenn Blicke töten könnten...

„Ich mache es kurz. Alle jungen Menschen, die hierherkommen, haben eine Bestimmung. In deinen ersten Wochen hier wird das Training darauf abzielen deinen ersten Einordnungsbereich zu finden. Dein Platz innerhalb von diesem wird sich dann nach und nach herauskristallisieren. Deshalb auch die Farben: Jede Abteilung hat nicht nur ihr eigenes Areal im Baum, samt Wohnbereich, sondern auch ihre eigene Farbe", erklärte Fionn.

„Deswegen auch die farblich abgestimmte Kleidung!", platzte ich hervor.

„Ich sehe schon, ich hab' hier eine absolute Leuchte vor mir... Wie auch immer, die Blauen zum Beispiel sind unsere Denker. Also die, zu denen du nie gehören wirst"

Oh, wie ich diesen Kerl langsam aber sicher verabscheute. Seine Art war unerträglich! Ich musste mich in diesem Moment wirklich stark zusammenreißen nicht ausfällig zu werden.

„Du gehörst zu den Roten nehme ich an?", fragte ich mit einem Blick auf seine dunkelrote, bedrohlich wirkende Uniform.

„Allerdings. Die Krieger."

Ach, was du nicht sagst...

„Ich bin ein Dunkelkämpfer. Das bedeutet, ich wache über die verbotenen Zonen und werde in der Zukunft gegen dunkle Clans kämpfen", fuhr Fionn in stolz-arrogantem Tonfall unbeirrt fort. „Eine besonders hohe Stellung in Divesquin."

Hui, dieser Typ hatte wirklich zu viel Selbstbewusstsein.

Doch plötzlich wurde Fionns Miene ernst. Dann sagte er in absolut humorfreien Tonfall: „Aber was du vielleicht wissen solltest -" Er brach ab und betrachtete mich.

„Was?" In meiner Stimme schwang leichte Panik mit.

„Egal, du wirst es irgendwann sowieso erfahren."

„Aber dann kannst du es mir doch auch gleich erklären!", rief ich.

„Nein. Ich – Ich darf es dir nicht sagen." Als ich zu einem neuen Überzeugungsversuch ansetzen wollte, schüttelte Fionn nur den Kopf.

„Tut mir Leid, Cassius", sagte er und in seinem Blick lag das erste Mal ehrliches Bedauern.

Damit drehte Fionn sich zur Tür, legte mir den Zimmerschlüssel auf den Tisch und verließ den Raum.

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