Kapitel 9

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Um meine Wut verrauchen zu lassen, streunte ich ein wenig herum. Die Versammlung war erst um elf Uhr, was mir noch etwas Zeit verschaffte. Ich begab mich eine Etage weiter nach oben und stellte fest, dass es direkt über dem Speisesaal einen Aufenthaltsraum für alle Lager gab. Wobei Raum hier vielleicht der falsche Begriff war. Es handelte sich vielmehr um eine Art Gewächshaus. Ein innenliegender Park mit viel grüner Fläche und hübsch angelegten Kieswegen dazwischen.

In der Raummitte befand sich ein großer Springbrunnen und an den Wegrändern standen hier und da ein paar helle Steinbänke. Exotische Pflanzen und nur gelegentlich vorbeiwandelnde Schüler ergaben eine ruhige Atmosphäre, in der ich mich entspannen konnte. Und das hatte ich dringend nötig!

Ich ließ mich irgendwo auf den Boden fallen und begann einen Grasbüschel nach dem anderen auszurupfen. Zumindest solange, bis ein Grüner vorbeikam und mir einen strafenden Blick zuwarf. Verlegen hörte ich auf.

Die Zeit verstrich und langsam kam ich wieder runter. Die Umgebung hatte einen angenehmen Effekt auf mich und die wunderschönen Pflanzen ergriffen meine Aufmerksamkeit zusehends. Viele von ihnen waren mir gänzlich unbekannt und mussten aus den trockenen oder heißen Gebieten Divesquins kommen. Irgendwo aus Salsem oder Xotrix vielleicht.

Über all dies vergaß ich die Neulingsversammlung und als mir auffiel wie spät es schon war, hatte ich keine Minute mehr, um pünktlich am verabredeten Treffpunkt anzukommen. Das war mir zugegebenermaßen etwas peinlich und ich konnte es Octavian nicht verübeln, sollte er schon ohne mich in den Versammlungssaal gegangen sein.

Aber Octavian hatte gewartet. Der Eingang zur Tausendlichtergrotte lag schräg gegenüber dem Speisesaal und eine imposante Treppe führte zu der großen Flügeltür, die schon geöffnet war, als ich ankam. Eine beachtliche Menge Neulinge strömte hindurch und am untersten Treppenabsatz lehnte Octavian mit verschränkten Armen. Er wirkte leicht verstimmt, aber als ich ihn entdeckte, war ich trotzdem erleichtert.

„Danke, dass du gewartet hast. Es tut mir echt leid, ich habe-"

„Schon gut, erzähl's mir später. Los komm, sonst kriegen wir keinen Platz mehr."

Ich folgte ihm durch die Tür, hinein in einen kleinen, dunklen Raum mit hoher Decke, der lediglich von einigen Fackeln beleuchtet wurde.

„Hier ist es aber finster... Nicht gerade ein Ort, den ich für eine Versammlung wählen würde."

„Das ist nur der Vorraum. Warte erstmal bis du die Grotte selbst siehst. Dann wirst du es schon verstehen."

Wir mussten uns in eine Schlange einreihen und warten bis man uns in die Grotte durchwinken würde. Einige ältere Schüler in blauen Roben liefen herum und händigten jedem eine versiegelte, viel zu sperrige Karte vom Ductrix-Baum aus.

„Und was soll ich jetzt damit?"

„Behalten, was sonst?"

„Ich wäre ehrlich gesagt dankbar gewesen, wenn sie damit bis später gewartet hätten." Die Karte war groß und unhandlich. Abgesehen davon konnte man sie in diesem Halbdunkel sowieso nicht lesen.

Die Schlange schrumpfte jedoch recht schnell und endlich durften auch Octavian und ich die Tausendlichtergrotte betreten – ein Name, unter dem ich mir nun noch weniger vorstellen konnte als zuvor. Doch schon beim ersten Anblick wurde mir vieles klar. Sobald wir durch das Tor schritten, standen wir auf einer kleinen Empore und mir schlug sofort eine angenehm kühlfeuchte Luft ins Gesicht. Was für eine Erfrischung nach der Hitze vorhin...

Octavian ließ mir Zeit ans Geländer zu gehen und alles zu betrachten. Was ich sah erschlug mich fast und ich traute meinen Augen kaum.

Der "Saal" war eine riesige Höhle, an die der Baum wohl direkt anschloss. Direkt vor uns lag ein glitzernder See, der den gesamten Höhlengrund bedeckte und an einigen Stellen scheinbar durch kleine Tunnel mit der Außenwelt verbunden war. Das durch diese unscheinbaren Tunnel eindringende Licht wurde vom Wasser tausendfach reflektiert und tauchte den ganzen Raum in lebendiges Licht. Nur ein großer, flacher Stein erhob sich am anderen Ende wie eine Bühne aus dem See. Unmittelbar hinter ihm ergoss sich ein Wasserfall über die gesamte Felswand.

Als ich meinen Blick zu den Seiten hinwandte, realisierte ich, dass rechts und links von der Empore, auf der wir standen, mehrere lange Treppen entlang der Wand verliefen. Sie führten nach oben in die Decke. Ich folgte ihrem Verlauf mit den Augen und sah erst jetzt die wahre Besonderheit dieses Saales.

Von der Decke hingen knospenartige Kugeln. Sie hatten die unterschiedlichsten Farben, schimmerten im reflektierten Licht und waren allesamt von oben und nach vorne hin geöffnet. In ihnen saßen Neulinge, die gebannt nach unten blickten. Durch die Öffnung oben führten Strickleitern hindurch, sodass alle Schüler vom Plafond aus in die Kugeln klettern konnten. Dieser Ort war der schönste, den ich in meinem gesamten Leben gesehen hatte. Offenbar war ich auch nicht der einzige, der so begeistert war. Überall auf den Treppen verfielen andere Neulinge in ein ähnliches Staunen.

Ich drehte mich zu Octavian, der genauso sprachlos dastand. Sehr ungewöhnlich für ihn.

„Ich dachte du kanntest diesen Saal schon?"

Er lachte. „Nein, sie haben die Neulinge hier vorher noch nicht reingelassen. Ich habe nur schon viel über ihn gelesen. Als Kind habe ich Bücher über den Ductrix-Baum besessen. Darin befanden sich auch Bilder der Tausendlichtergrotte, von denen ich immer total fasziniert war. Wirklich hier zu stehen und alles mit eigenen Augen zu sehen ist einfach unglaublich für mich." Den letzten Satz flüsterte Octavian fast und es war offensichtlich, wie viel es ihm bedeutete in diesem Raum und an dieser Akademie sein zu dürfen. Ein kleiner Anflug von Scham kam in mir auf. Doch bevor sich diese überhaupt erst richtig in mein Bewusstsein einschleichen konnte, fuhr er schon fort.

„Meine Eltern haben mir und meiner Schwester viel über diesen Ort erzählt. Du glaubst gar nicht wie viele Legenden sich in Divesquin um diesen Baum, und insbesondere diesen Saal, ranken. Ich muss ihnen später unbedingt einen Brief schreiben, in dem ich ihnen alles erzähle." Er seufzte. Ich wurde ebenfalls wehmütig. Nur lag der Unterschied zwischen uns darin, dass ich nicht wusste, um was genau ich eigentlich wehmütig war.

Plötzlich schoss ein leuchtendes, geflügeltes Etwas unter der Empore hervor. Ich erkannte es auf der Stelle, da in meiner früheren Schule Wert auf umfangreiches Wissen über die Tiere Divesquins gelegt wurde. Schön, dass mir das nun endlich einmal etwas brachte.

Das Tier, das jetzt vor unseren Augen seine Runden zog, war ein Nebrun, ein großes Wassertier, welches Flügel, aber keine Beine besaß. Die Flügel halfen ihm im Wasser schneller voranzukommen, gaben ihm jedoch auch die Möglichkeit sich bei Bedarf oberhalb davon fortzubewegen. Anstelle von Beinen besaß er auf beiden Seiten mehrere flossenartige Arme mit kleinen schwebenden Leuchtfühlern – vier von denen saßen auch auf seinem Kopf. Die schuppige Haut war weiß und dieses Tier hatte außerdem die Fähigkeit von innen her zu leuchten.

Bei genauerer Betrachtung merkte ich, dass hinter seinem Kopf eine Frau saß. Ich hatte vielleicht schon einiges über Nebrunen gehört, doch es war mir neu, dass Menschen auf ihnen reiten konnten. Octavian schien meine Wissenslücke sofort erkannt zu haben und ließ es sich nicht nehmen, sie zu schließen.

„Das ist Madame Evander, eine der wichtigsten Lehrenden hier. Ihre Kursgebiete sind die allgemeine Tierkunde, Strukturkunde und die Magiepsychologie. Sie ist also hauptsächlich eine Lehrerin des grünen und des gelben Lagers, leitet aber auch ein paar Kurse bei den anderen."

„Woher weißt du das nur schon wieder?" Skeptisch musterte ich Octavian. Doch der zuckte nur mit den Schultern.

„Hab' mich die letzten Wochen halt ein wenig informiert. Zeit hatte ich ja genug."

Bevor ich etwas erwidern konnte, flog der Nebrun auf uns zu und seine Reiterin gab uns unmissverständlich zu verstehen, dass wir uns jetzt besser einen Platz in den hängenden Knospen suchen sollten.

Wir stiegen die steilen Treppen hoch und kletterten in eine blaue Knospe, in der noch nicht allzu viele Schüler saßen und man trotzdem einen guten Blick auf den großen Felsen und den Wasserfall hatte.

Dann war es soweit und eine elegante Dame mittleren Alters kam auf einem mit türkisfarbenen Blüten geschmückten Boot durch einen der Seitentunnel dahergeschwommen. Am Felsplateau legte sie an und betrat es. Sie trug keine Schuhe und ihr Kleid strahlte Anmut und Macht aus.

Sie war keine Person, die man am Wegesrand links liegen lassen würde. Selbst ein Mensch mit größtem Desinteresse an anderen, würde tun, was sie sagte. Aus bloßer Angst vor der Konsequenz, wenn er es nicht machen würde.

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