Kaum zu glauben. Es musste vor Sieben sein, denn ein Blick aus der kleinen Fensterluke meines Zimmers verriet mir, dass es immer noch dunkel war. Warum um alle Welt musste man hier schon so früh raus?
Glücklicherweise war ich gestern relativ zeitig zu Bett gegangen, sonst wäre ich heute wahrscheinlich zu nichts zu gebrauchen. Allerdings hatte ich die gesamte Nacht über sehr unruhig geschlafen und wurde immer wieder von Albträumen geplagt, an die ich mich jedoch schon jetzt nicht mehr erinnern konnte. Schade eigentlich, sie hätten hilfreich sein können. Albträume sind schließlich bekannt dafür, nette Hinweise auf vergangene, unverarbeitete Ereignisse zu sein.
Während ich meine Kleidung für den heutigen Tag zusammenraffte – Wahl zwischen Weiß, Creme und noch mehr Weiß -, ging ich in Gedanken alles durch, was so anstand. Dabei kroch wieder die gestrige Angst in mir hoch.
Octavian wollte nachmittags, direkt nach dem Unterricht, wieder in die Bibliothek. Dort gab es ein aktiv geführtes Namensregister, dass alle Nachtwächter verzeichnete, einschließlich denen, die aktuell noch Schüler in Ductrix waren und Nachtwache im Ductrix-Baum hatten. Er meinte, es sei am wahrscheinlichsten, dass uns einer von ihnen gehört hatte, da sich außer ihnen in der Regel niemand nachts in der Bibliothek aufhielt.
Sein Ziel war es die Person ausfindig zu machen und herauszukriegen, warum sie uns drohte. Erst dann könnten wir uns überlegen, wie wir genau vorgehen.
Octavians Wunsch war es zu Beginn, einfach mit der Person zu reden und sie zu bitten, das Ganze für sich zu behalten. Zum Glück konnte ich ihn von dieser Idee abbringen, denn ich glaubte nicht, dass das auch nur ansatzweise funktionieren würde. Jemand der uns so offensichtlich droht, lässt garantiert nicht 'einfach mit sich reden'. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn wirklich ans Licht kommen würde, was wir in der Nacht gesagt hatten. Mir wurde schlecht und ein stechender Schmerz schoss durch meine linke Hand.
Vor Schreck ließ ich den silbergrauen Samtbeutel fallen, den ich mir gerade über die Schulter werfen wollte. Jeder Neuling hatte gestern Abend noch einen bekommen. Wir sollten ihn die ersten zehn Wochen immer zum Unterricht mitnehmen. Über die ersten Wochen würden wir dann verschiedene mehr oder weniger nützliche Dinge bekommen, die wir sicher verstauen sollten.
Als der Beutel zu Boden fiel, klirrte es. Verwirrt blickte ich an mir herunter. Über den Boden verteilt lagen dutzende Scherben und aus dem Beutel ragte ein kantiges Etwas. Wie konnte das sein? Ich hatte doch noch gar nichts reingetan. Um genau zu sein, hatte ich den Beutel noch nicht einmal geöffnet. Ich konnte mich nicht erinnern, dass schon etwas im Beutel war als ich ihn bekommen habe. Doch ich habe natürlich auch nicht darauf geachtet. Gut möglich also, dass ich es einfach nicht bemerkt habe.
Ich bückte mich. Vorsichtig zog ich den Gegenstand heraus. Es war ein hölzerner Bilderrahmen. Kleine Blätter waren rundherum in ihn hineingeschnitzt und zeugten von feinster Handarbeit. Fasziniert drehte ich ihn um, um zu sehen, ob ein Bild in ihm steckte. Dabei schnitt ich mich an einem der hervorstehenden Glassplitter. Na super.
Tatsächlich fasste der Rahmen ein Bild. Auf den ersten Blick erkannte man darauf einen Ausschnitt von einem Kiesstrand, der von zwei Eiswänden eingeschlossen wurde. Von der rechten stürzte ein Wasserfall ins Meer. Die andere Eiswand war nicht so steil und wirkte wie die kleine Schwester der anderen, nur dass sie keine Chance bekommen hatte, dem Meer selbst solche Wassermassen zu schenken.
Zwischen den beiden großen Eisbrocken lag ein schmaler Spalt, gerade groß genug, dass Menschen ohne Probleme hindurchlaufen konnten. Er eröffnete einen Blick auf ein paar dahinterliegende vereiste Nadelbäume.
Die Zeichnung war äußerst detailgetreu und musste von einem Standpunkt im Wasser aus angefertigt worden sein. Sie kam mir bekannt vor. Irgendwie vertraut. Irgendwie wie etwas, das man Heimat nennt.
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Die Gebundenen
FantastikCassius landet ohne Erinnerung an einem ihm unbekannten Ort. Es handelt sich um eine sonderbare Schule der Regierung, an der teils unmenschliche Gesetze herrschen und jedem Schüler eine Bestimmung zufällt. Als Cassius von seiner erfährt, ist er scho...