Achtzehn Uhr. Ich lag jetzt seit guten fünf Stunden in diesem Zimmer und hatte inzwischen die Tatsache angenommen, dass Wurzelbäume wohl doch existierten.
Frische Luft und dämmeriges Licht strömten durch ein rundes Fenster über mir. Ich hatte schon überlegt hinauszuklettern und zu verschwinden, aber ich zweifelte doch sehr an dem Gelingen dieses Plans. Erstens kannte ich mich hier überhaupt nicht aus – mehr als ein Erdgewölbe, ein Büro und einen Saal hatte ich hier ja auch nicht gesehen – und zweitens wusste ich nicht mal wo ich hingehen sollte.
Wo kam ich her? Was war mit mir passiert? Diese Fragen hatte ich mir in den letzten Stunden wieder und wieder gestellt, krampfhaft hatte ich versucht klare Bilder in meinem Kopf hervorzurufen. Bilder, die mir Antworten gaben. Aber da war nichts.
Ich wusste, dass ich eine Familie hatte, und dass sie nicht groß war. In meinem Kopf tauchten, bei dem Gedanken an sie, nur wage Umrisse einer Personengruppe ohne Gesichter auf.
Mehr als diese verschwommenen Erinnerungen hatte ich nicht. Und das brachte mich natürlich kein Stück weiter.
Ich ließ mich auf dem Sessel nieder, zog die Beine an und legte meinen Kopf auf Knie. Es war mir unverständlich, wie man solch wichtige Informationen vergessen konnte. Und jetzt vermisste ich etwas, von dem ich keine Vorstellung mehr hatte. Ich vermisste es so sehr...
Mich überrannten auf einmal so viele Emotionen, dass ich kaum noch in der Lage war sie zu unterdrücken. Das Zimmer wirkte mit einem Schlag noch enger als es ohnehin schon war. Außerdem nagte der Hunger an mir. Ich musste dringend aus diesem Raum raus.
Den Schlüssel schnappend rauschte ich aus dem Zimmer, nur um kurz darauf an mir herabzuschauen und zu merken, dass ich immer noch meine alte Kleidung trug. Ein erdverdreckter Wollpullover, in dem mir obendrein viel zu heiß war, gepaart mit einer abgewetzten Hose.
Wenn ich schon dazu gezwungen war hier zu bleiben - zumindest bis ich mich wieder daran erinnerte, wo ich wohnte - sollte ich es mir wenigstens nicht gleich am Anfang so schwer machen. Mit solchen Personen wie Fionn wird das schon von alleine passieren.
Ich drehte also nochmal um und zog willkürlich ein paar Kleidungsstücke aus der Ansammlung. Aus Kleidung machte ich mir normal nicht viel, aber ich musste zugeben, dass diese schlichte weiße Garderobe – in unterschiedlichen Weißtönen und hier und da mit glitzernden Bestickungen verziert – wirklich gut aussah. Das gewählte weiße Hemd und die cremefarbene dünne Hose passten mir. Selbst mein Dunkelblond machte sich ausnahmsweise mal gut in der Kombi. Zufrieden musterte ich mein Spiegelbild.
Da knurrte mein Magen. Ich brauchte etwas zu essen, und zwar schnell. Eilig machte ich mich auf den Weg zu dem Saal, den wir vorhin durchquert hatten.
Diesen Weg zu finden gestaltete sich allerdings schwieriger als gedacht. Die Weißwurzelgänge waren nämlich nicht ausgeschildert. Sehr heldenhaft also, wenn das der Trakt sein sollte, in dem neue Schüler wohnten.
Erst nachdem ich zum vierten Mal an derselben Blumenranke, die sich durch einen Teil des Ganges wand, entlanglief, entdeckte ich eine Einbuchtung hinter einem Efeu-Vorhang. Allem Anschein nach waren wir da vorher auch schon durchgelaufen, aber ich hatte es wohl in meiner allgemeinen Verwirrung wieder einmal nicht bemerkt.
Im Saal angekommen stand ich erstmal eine Weile etwas verloren herum. Es war weitaus weniger los als zuvor, nur ab und zu huschten ein bis drei Personen durch den imposanten Raum, jedoch ohne Notiz von mir zu nehmen.
Bis irgendwann ein sehr junger Mann, etwa in meinem Alter, den Saal betrat. Er hatte dunkelbraunes, leicht lockiges Haar und musste ebenfalls ein Neuling sein, denn auch seine Kleidung war weißlich gehalten - abgesehen von der grauen Hose. Als er mich erblickte, steuerte er direkt auf mich zu. Ich wich ein paar Schritte zurück.
„Bist du der Neue?", fragte er geradeheraus.
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet.
„Bist du das nicht auch?", entgegnete ich irritiert.
Der Junge lachte: „Naja, ich bin zwar auch noch nicht lange hier, aber schon seit ein paar Tagen. Hab' mitbekommen, dass einer von uns noch fehlt und als ich dich gerade hier stehen gesehen habe, war mir klar, dass das nur du sein konntest. Aufrecht und selbstbewusst und doch irgendwie verloren", grinste er. Dann bemerkte er, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte.
„Ach übrigens, ich bin Octavian!" Er streckte mir die Hand entgegen. Ich beäugte sie misstrauisch, aber aus seinen Augen sprühte Begeisterung und sein Lächeln war so ehrlich, dass meine Skepsis so schnell verschwand wie sie gekommen war.
„Cassius", sagte ich und reichte ihm meine Hand. „Und du hast Recht, ich war anscheinend der Letzte auf der Liste. Ihr habt einen ganz schön miesen Wärter."
„Verstehe, du hast also schon Bekanntschaft mit Trios gemacht. Er ist nicht nur selber ein hochrangiger Wächter, sondern auch noch Oberhaupt aller Dunkelkämpfer. Das sind diejenigen, die unter anderem die Patrouillen-Arbeit in den verbotenen Zonen machen dürfen", erklärte er.
Dass ich auch einen der letztgenannten schon kannte, verschwieg ich Octavian lieber. Vielmehr wollte ich wissen, wo es etwas zu essen gab. Mein Hunger brachte mich um. Wer weiß, wann ich das letzte Mal Nahrung zu mir genommen, geschweige denn Wasser getrunken hatte. Es konnte eine Ewigkeit her sein.
„Sorry, wenn das jetzt etwas aus dem Kontext gerissen kommt, aber hast du eine Idee, wo man hier was zu essen bekommt?" Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Octavian nickte.
„Eigentlich war ich sogar gerade auf dem Weg zum Speisesaal. Ich nehm' dich gerne mit. Die Gänge hier sind sehr... unübersichtlich."
„Was du nicht sagst! Ich bin vorhin viermal im Kreis gerannt, bis ich diesen Raum gefunden habe."
„Man kennt's. Dieser Baum ist absurd groß und ich kenne mich hier selber noch nicht so gut aus, aber gut genug, um zu überleben", lachte er und auch ich musste schmunzeln. Und das erste Mal seit ich an diesem Ort aufgewacht bin, verspürte ich so etwas wie Hoffnung. Hoffnung, dass die Zeit hier doch schön werden könnte.

DU LIEST GERADE
Die Gebundenen
FantasíaCassius landet ohne Erinnerung an einem ihm unbekannten Ort. Es handelt sich um eine sonderbare Schule der Regierung, an der teils unmenschliche Gesetze herrschen und jedem Schüler eine Bestimmung zufällt. Als Cassius von seiner erfährt, ist er scho...