Jena
Am nächsten Morgen stand ich wie immer Früh auf. Der Himmel, den ich zwischen den Vorhängen hervorlugen sehen konnte, war noch dunkel, doch die Vögel hatten ihr allmorgendliches Konzert bereits begonnen.
Müde und mir den Schlaf aus den Augen reiben, schob ich meine warme Decke zur Seite und setzte meine Füße auf den empfindlich kalten Boden meines Wohnwagens. Das war immer der schlimmste Schritt am Morgen, der der mich auch am meisten Überwindung kostete. Raus aus dem gemütlich warmen, weichen Bett, konfrontiert mit der Eiseskälte der frühen Morgenstunden. Doch es half nichts.
Schlaftrunken tapste ich in mein winziges Badezimmer, knipste das spärliche Licht der Deckenlampe an und schlüpfte vorsichtig aus meinem Schlafanzug.
Zuerst versuchte ich in eine Jeans zu schlüpfen, doch der bloße versuch, die enge Skinnyjeans hoch zu ziehen quittierten meine Hände mit so stechenden Schmerzen, dass mir für ein paar Augenblicke die Luft weg blieb. Also strampelte ich mich mit den Beinen wieder aus der Hose raus und machte mich auf die Suche geeigneteren Wahl.
Schließlich fiel meine Wahl auf die einzige Jogginghose, die ich besaß. Sie war grau, mindestens fünf Jahre alt und wurde normalerweise nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit von mir getragen. Doch sie war meine einzig verbleibende Möglichkeit, wenn ich nicht im Schlafanzug vor die Tür wollte, denn bis auf in sie würde ich in keine andere Hose reinkommen.
Und obwohl ich auch beim Rest meiner Klamottenwahl drauf achtete, dass ich meine Hände zum Anziehen möglichst wenig benutzen musste, dauerte das ganze Prozedere doch wesentlich länger als sonst. Immer wieder entfuhr mir ein schmerzverzerrter Laut, wenn ich meine Hände zu sehr in Anspruch nahm.
Gestern Abend hat Marina noch ihr Bestes gegeben, um alle Scherben aus den Wunden zu entfernen, die Blutung zu stoppen und meine Hände zu verbinden, doch Leonardo bestand darauf, heute einen Arzt aufzusuchen.
Er war gestern regelrecht explodiert, als er gemerkt hat, wie sich einige Artisten über mich lustig gemacht haben. Er war zwar ein Bär von einem Mann, aber im Herzen war er immer lebensfroh, warmherzig und harmoniebedürftig. So wütend wie gestern habe ich ihn selten erlebt. Und auch wenn er bestimmt sehr erzürnt über die rücksichtslosen Reaktionen seiner Mitarbeiter war, so vermutete ich noch einen anderen Grund dafür, dass er so über die Maßen sauer geworden war. Allerdings hatte ich mich nicht getraut, danach zu fragen.
Als ich es endlich geschafft hatte, mich umzuziehen und die Tür meines Trailers öffnete, erwartete mich bereits ein junger Artist. Er stellte sich mit einem kurzen Kopfnicken als Milan vor und ich erkannte in ihm einen der Jungs wieder, die bei der Gruppe standen, zu dem sich mein vermeintlicher Schubser gesellt hatte. Dementsprechend feindselig war ich gestimmt, als ich ihn fragte:
„Was willst du hier?"
Er grinste freudlos: „Glaub mir, ich bin nicht freiwillig hier"
„Keiner zwingt dich!"
„Doch leider schon, ich hatte einen Kreuzbandriss, deswegen trainiere ich im Moment nicht so viel und bin somit der Einzige der Zeit hat, dich zum Arzt zu fahren"
Ich seufzte innerlich genervt auf, hatte ich doch gehofft, Marina oder Leonardo würden mich begleiten, aber die beiden steckten vermutlich schon wieder bis zum Hals in Arbeit.
„Okay", antwortete ich schließlich, „wo steht dein Wagen?"
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und lief zu den Parkplätzen. Ich folgte ihm mit einigem Abstand. Er steuerte auf ein rotes, ziemlich klappriges Auto zu, sperrte es auf und schwang sich auf den Fahrersitz. Mühevoll öffnete ich die Tür auf der Beifahrerseite und ließ mich auf den bequemen, aber schon ziemlich durchgesessenen Sitz fallen. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen und verfärbte die wenigen Wolken am Himmel in ein zartes Rosa.
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Die Schatten ihrer Vergangenheit
RomanceSeit Jena ihre Eltern verloren hat, ist sie auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Im Zirkus Marina glaubt sie es endlich gefunden zu haben, doch je länger sie dort ist, desto mehr dunkle Geheimnisse, Lügen und Verschwörungen kommen ans Licht. Und...