Kapitel 6

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Jena

Zwei Tage später bauten wir kurz vor der Mittagspause, einen Käfig rund um die Manege auf. Stephano wollte eine Nummer mit seinen Junghengsten proben und da sie das Laufen in der Manege noch nicht gewöhnt waren, wurde ein Käfiggerüst zur Sicherheit errichtet.

Stephano war mit seinen fast 70 Jahren, das älteste Mitglied der Zirkusgemeinschaft, sah aus wie ein italienischer Filmstar und hatte ein Händchen für Tiere, wie ich es noch nie erlebt hatte. Egal wie wild und störrisch eines unserer Tiere war, sobald Stephano in die Nähe kam, wurden sie alle lammfromm. Er liebte die Tiere und sie liebten ihn.

Ihm war ein artgerechter Umgang extrem wichtig, weswegen wir überall, wo wir hinkamen Koppeln errichteten, auf denen sich Pferde den ganzen Tag frei bewegen konnten. Löwen oder Elefanten gab es bei uns im Zirkus nicht. Stephanos Tiere waren die Einzigen und auch sie traten nur alle zwei Jahre im Zirkus auf. Die übrige Zeit lebten sie in Süditalien auf Stephanos Bauernhof ein ruhiges Rentnerdasein.

Doch nicht nur mich faszinierte seine Arbeit mit den Tieren, sodass auch immer wieder einige der Artisten bei seinen Proben zusahen. So auch an diesem Tag. Es waren ein paar Mitglieder des fliegenden Trapez, einige vom russischen Barren, die Hochseilartisten und unser Clown-Duett zum Zuschauen gekommen. Einige von ihnen hatten sich tatsächlich bereit erklärt, uns beim Aufbauen unter die Arme zu greifen.

Die Errichtung des Gerüsts war an sich nicht schwierig. Reihum wurden Zaunteile aneinandergereiht und dann nochmal eine Schicht auf die Erste gesteckt. Dafür mussten einige der Helfer auf die erste Hälfte des Zauns steigen, welche dann den zweiten Teil über einen Flaschenzug hochgereicht bekam.

Meine Kollegin Linda und ich kletterten also nach oben, um das zweite Teilstück entgegen zunehmen. Ich blickte nach unten und sah, wie sich einer der Hochseilartisten zu unseren Flaschenzug herunter beugte. 

Erst als er wieder zu uns nach oben blickte, erkannte ich Salvatore in ihm. Er trug ein weites Leinenhemd, das er locker in eine hochgeschnittene schwarze Schlaghose gesteckt hatte. Irgendwie sah es an ihm wirklich gut aus, trüge er nicht gerade das selbe boshafte Lächeln wie Taio ein paar Tage vorher bei meinem Unfall im Gesicht.

Doch ehe ich reagieren konnte, grinste Sali noch ein Stückchen bereiter, griff nach dem Seil und rief uns zu:

„Bereit?"

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er das Seil so schwungvoll zu sich, dass das Gittergerüst uns mit einem Satz entgegen kam. Linda konnte sich gerade noch weg ducken, als das Gerüst auf uns zu gerauscht kam. Ich leider nicht. Das Gerüst krachte in mich hinein und brachte mich auf dem Gleichgewicht. Ich versuchte mich irgendwo festzuhalten, doch meine Hände waren immer noch dick bandagiert, sodass ordentliches zupacken unmöglich war. Ich fiel und schlug hart auf dem Manegenboden auf.

Mir wurde sämtliche Luft aus den Lungen gepresst und für eine Sekunde hatte ich Angst zu ersticken, weil Einatmen unmöglich war. Dann drehte sich alles. Ich hörte entfernte Rufe, aber vor allem nahm ich ein durchdringendes, höhnisches Lachen war. Ich setzte mich auf. Alles um mich herum drehte sich, sodass ich einen Moment brauchte um mich zu orientieren, dann sah ich Taio und ein paar Artisteninnen vom russischen Baren bei Salvatore stehen. Sie schlugen einander ab und konnten sich kaum noch halten vor Lachen. Wortfetzen wie:

„Mega Aktion Sali"

„Hast du gesehen, wie sie gefallen ist?"

„Ja, man, wie ein Sack Kartoffeln"

„Bestimmt flennt sie gleich wieder"

„Dass so jemand unbegabtes mit uns arbeitet ist echt eine Zumutung, aber solange Leonardo seine schützenden Hände über sie hält...", drangen an mein Ohr und eine heiße Wut durchströmte mich.

Die Schatten ihrer VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt