Kapitel 9

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Jena

Als mein Wecker am nächsten Morgen klingelte, wusste ich sofort, dass es ein guter Tag werden würde. Ich war zwar unfassbar müde, aber nach dem Tag gestern auch mehr als glücklich und so konnte ich es kaum abwarten Nikan und Linda zu treffen. 

Nach einer lauwarmen Dusche, zog ich in Windeseile meine Arbeitsmontur an, drehte den abgelaufenen Messingknauf meiner Wohnwagentür, welche mit dem üblichen leisen Klicken aufsprang.

Ich trat auf die erste von drei Stufen einer kleinen Treppe, die von meinen Wohnwagen auf das noch taufeuchte Gras führte und hielt inne.

Die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, weswegen sie die wenigen Wolken am Himmel in ein wunderschönes, zartes Rosa färbte, während sie gleichzeitig lange Schatten der Bäume und Wohnwagen um mich herum in die Wiese zeichnete.

Einen Augenblick lang genoss ich einfach nur diesen Anblick, atmete die kühle frische Sommerluft ein. Das hier war jetzt mein Leben. Unglaublich. So lange hatte ich davon geträumt, so oft gedacht es würde nie Wirklichkeit werden und jetzt, wo es tatsächlich endlich so weit war, weigerte sich meine Gehirn manchmal, zu glauben, dass das hier die Realität war. Ein Teil  von mir erwartete immer noch, eines morgens aufzuwachen und wieder in dem unbequemen, viel zu kleinen Bett zu liegen, auf einer Matratze, die so alt und durchgelegen war, dass man die Federn bei jeder noch so kleinen Bewegung unangenehm in den Rücken drücken spürte, während man stundenlang auf die kargen Mischbetonwände starrte und von einem Leben träumte, dass so viel besser und bunter war, als das jetzige, von dem man sich aber keine Illusionen machte, dass es irgendwann tatsächlich wahr werden würde.

Und jetzt stand ich hier, auf diesen leicht knarzenden alten Stufen, die zu meinem fröhlich gelb bemalten Wohnwagen führte, mit einer Familie, die ich solange vermisst hatte und vielleicht sogar zwei neuen Freunden, mit denen eine Welt voller Abendteuer bevor stand. 

Kein Wunder, dass ich immer noch Schwierigkeiten hatte, zu begreifen, wie viel Glück ich hatte, denn das hier war noch besser, als ich je zu Hoffen gewagt hatte.

Die laute Stimme von Matteo, aus einem der Wagons neben mir drang an mein Ohr und riss mich aus meinen Gedanken. Ein flüchtiger Blick auf meine strahlend rote Armbanduhr verriet mir, dass ich zwar noch nicht zu spät war, es jetzt aber langsam an der Zeit war, mich auf den Weg zum Büro zu machen.

Dort angekommen studierte ich aufmerksam meinen Arbeitsplan. Leider waren Linda, Nikan und ich heute morgen nicht in die gleichen Gruppen eingeteilt. Ich war dran, das Zelt vom Auftritt gestern zu reinigen, Linda war in den Stallungen und Nikan bei der Reparatur. 

Doch das trübte meine Stimmung nicht im mindesten. Fröhlich vor mich hin pfeifend, holte ich meine Arbeitsutensilien und lenkte meine Schritte in Richtung Zelt.

Zusammen mit Leander und Florian durchkämmte ich die Zuschauerreihen, sammelte leere Plastikbecher, heruntergefallenes Popcorn und vergessene Programmhefte ein, welche anschließend in einen großen dunkelblauen Müllsack landeten. Danach schnappte ich mir einen Wischmopp samt Eimer und Lappen und begann den Boden und die Stühle sorgsam zu reinigen. Das Ganze war eine mühsame und schweißtreibende Arbeit, sodass ich froh war, als meine Uhr endlich zum Frühstück piepte. Den Rest würde ich später noch erledigen.

Gemeinsam mit meinen beiden Kollegen machte mich auf dem Weg zum Frühstückswagon. Nikan und Linda waren bereits da. Nikan war aschfahl im Gesicht und drohte vor lauter Müdigkeit fast, mit dem Gesicht voran in seine Müslischale zu kippen. Linda hingegen wirkte topfit und winkte mir aufgeregt zu.

„Hey, na, wie bist du heute aus dem Bett gekommen? Ich musste meine Dusche erstmal auf eiskalt stellen, sonst würde ich jetzt wahrscheinlich noch so aussehen wie Nikan", grinste sie mir rüber, als ich mich neben sie setzte und geräuschvoll meinen Stuhl an den Tisch rückte.

Die Schatten ihrer VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt