Kapitel 10

72 15 47
                                    

Jena

Die nächsten Stunden erlebte ich wie durch eine dicke Nebelschicht hindurch. Wir saßen in der lauen September-Sonne an einem kleinen Gartentisch und unterhielten uns. Beziehungsweise die Anderen unterhielten sich, lachten und alberten herum, während ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich kurz davor stand den Verstand zu verlieren.

Ich war hierhergekommen um alles hinter mir zu lassen, neu anzufangen und mit dem was geschehen war, abzuschließen. All das war mir gelungen und obwohl die zwei ältesten Alvarez-Brüder mir das Leben immer wieder schwer gemacht hatten, war ich so glücklich gewesen wie nie zuvor. Ich hatte neue Freunde und einen Job gefunden und das ausgerechnet bei Marina und Leonardo, die mich bei sich aufnahmen, wie ein lange verloren geglaubtes Kind. Es war zu schön gewesen um wahr zu sein.

Ava.

Er hatte mich Ava genannt... Eine Gänsehaut durchrieselte mich. Woher konnte er davon wissen? Es gab nur sehr wenige Menschen, die diesen Namen kannten. Als nach all diesen Jahren jemand mich wieder bei diesem Namen genannt hatte, war es als wären die Uhren für einen Moment stillgestanden, nur um augenblicklich anzufangen rückwärts zu laufen. All die schmerzvollen Erinnerungen, die ich so tief in mir begraben hatte, drangen wieder an die Oberfläche und sorgten dafür, dass ich kaum noch Luft bekam und sich kalter Schweiß in meinem Nacken bildete.

Mein Blick fiel über den Tisch zu Sali hinüber, der einen der Zwillinge gerade mit einer Servierte abwarf und sich schüttelte vor Lachen. Wie viel wusste er? Kannte er die ganze Geschichte? Und wenn ja, war er sich im Klaren, was er mir antuen würde, wenn auch die anderen sie erfahren würden? Ich musterte sein Gesicht. Würde ich ihn nicht kennen, dann wäre ich seinem Lächeln schon längst verfallen. Wenn er, wie jetzt, aus vollem Herzen lachte, dann begannen seine dunklen Augen zu strahlen, Lachfalten umrahmten sein Gesicht und sein ganzer Körper bebte, so sehr, dass man am liebsten mit lachen würde.

Aber ich kannte ihn. Ich wusste, wie grausam er sein konnte. Ich verstand nur nicht warum. Und warum hauptsächlich mir gegenüber? Bis vor ein paar Wochen hat er mich doch überhaupt nicht gekannt. Eine Erinnerung bahnte sich ihren Weg in mein Bewusstsein. Es war das Gespräch mit Nadja, dass mir wieder in den Sinn kam. Sie meinte, dass man sich mit Milan, Taio und Sali besser nicht anlegte. Doch was hatte es mit dieser Warnung auf sich? Hieß das, dass die drei sowas öfter durchzogen? Bisher hatte ich zwar mitbekommen, dass sich vor allem die beiden älteren Alvarez-Brüder gegenüber dem Zirkuspersonal mies verhielten, doch es hatte ein anderes Ausmaß als bei mir. Konnte Nadja diese fiesen Neckereien gemeint haben? Andererseits, als ich damals anfing nachzuhaken, hat Nadja fast schon fluchtartig das Gespräch beendet und war gegangen. Wieder meldete sich mein ungutes Bauchgefühl. Vielleicht war hier vieles nicht so harmonisch, wie alle versuchten nach außen zu zeigen.

„Alles in Ordnung bei dir, Jena?"

Marinas Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir durch, sorgte aber dafür, dass ich aus einem Meer aus Erinnerungen und Gedanken wieder auftauchte. Ich blinzelte und brauchte einen Moment um mich zu orientieren. Die Rossis und alle Alvarez-Brüder starrten mich an. In Marinas Augen sah ich Sorge, in Salis unermessliche Schadenfreude. Ich riss mich zusammen, merkte dass ich meinen ganzen Körper angespannt und die Fingernägel meiner rechten Hand tief in meinen linken Arm gegraben hatte. Ich versuchte mich körperlich zu entspannen, atmete tief durch und zwang ein Lächeln auf mein Gesicht.

„Klar", brachte ich sogar relativ überzeugend hervor, „war nur in Gedanken"

„Das kann ich mir vorstellen", wisperte Taio so leise neben mir, dass nur ich es hören konnte und schenkte Sali ein triumphierendes Lächeln. Augenblicklich durchströmte mich heiße Wut. Doch Marinas immer noch sorgenvoll auf mich gerichteter Blick hielt mich von einer unüberlegten Reaktion ab. Ich schluckte die Wut so gut es ging hinunter und schwor mir, es den beiden heimzuzahlen, doch jetzt war dafür definitiv nicht der richtige Augenblick, zumal ich Gefahr lief, dass Leonardo und Marina von der ganzen Sache erfuhren und das durfte auf keinen Fall passieren. Schon der Gedanke daran, wie enttäuscht sie reagieren würden, schnürte mir noch weiter die Luft ab und der Stein auf meinem Magen wurde unerträglich schwer. Ich wandte mich wieder Marina zu und sah in ihrem Blick, dass meine Antwort sie noch nicht überzeugt hatte, also versuchte ich durch eine Gegenfrage ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.

Die Schatten ihrer VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt