Kapitel 1

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Sali

„Alle mal herhören", rief der Direktor Leonardo Rossi des Zirkus Marina. Genervt blickte Sali von seinem Handy auf. Sie hatten heute ihren ersten freien Tag seit Beginn der Sommertournee und er konnte in den Gesichtern seiner Kollegen sehen, dass sie auf diese Besprechung ebenso wenig Lust hatten wie er. Die meisten hatten geplant, den Tag am Strand zu verbringen oder in die Stadt zu fahren, stattdessen hat Rossi sie alle um acht aus ihren Waggons geworfen, weil es wichtige Neuigkeiten gäbe. Er blickte zu seinem besten Freund Milan, der wiederum genervt auf seine Uhr schaute. 

Obwohl Milan genau am anderen Ende des Besprechungsraums an der Wand lehnte, konnte Sali ihm ansehen, dass auch er nicht gerade begeistert von diesem Meeting war. Immer wenn Milan verbergen wollte, dass ihn eine Situation gerade nicht passte, setzte er dieses gezwungene Lächeln auf, während er gleichzeitig skeptisch die Augenbrauen zusammen zog. So wie jetzt gerade.

Rossi räusperte sich noch einmal und lenkte Salis Aufmerksamkeit damit wieder auf die ach so wichtigen Neuigkeiten. 

Der kleine untersetzte Mann mit imposantem Schnurrbart zog noch einmal den Bund seiner Hose hoch, schob seine Brille wieder in die richtige Position auf seiner Nase ehe er zu sprechen begann.

„Ich möchte euch jemanden vorstellen, der ab heute Teil des Teams sein wird und euch gerne bei allem unterstützt, was anfällt. Ich hoffe, ihr werdet sie aufnehmen wie eine alte Freundin und ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen.", sprach er und lächelte dabei so warm und herzlich, wie man den sonst eher aufbrausenden Mann mit der tiefen Bassstimme nur selten antraf.

Sali runzelte die Stirn.

Das war in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. 

Zum einen gab immer wieder wechselnde Helfer, die sich um die Tiere, den Aufbau oder den Kartenverkauf kümmerten, doch sie blieben meist nicht lange. Würde sie Rossi alle persönlich vorstellen, so würde hier kaum jemand noch zum Tagesgeschäft kommen.

Außerdem... warum freute sich Rossi augenscheinlich so über den Neuzugang? 

Die Einarbeitung von neuen Mitarbeitern gehörte nicht unbedingt zu den Lieblingsaufgaben des Direktors, da dass meist mit einigen Missgeschicken und Trödeleien einherging, die Rossi in der Regel mehr als nur einmal zur Weißglut brachten, weswegen er diese Aufgabe normalerweise liebend gern abgab.

Doch diesmal? Diesmal hüpfte er beinah trotz seiner über die Jahre angesammelten ein, zwei Kilos mehr zur Tür und öffnete sie mit einen Grinsen, wie es sonst nur Kinder an ihrem Geburtstag trugen.

Eine junge Frau betrat den Raum. Sali schätzte sie auf Anfang zwanzig, sie hatte schulterlanges, dichtes Haar, braun, mit einem leichten Rotstich. Ihr Gesicht war puppenhaft, ihre Haut sehr blass. Sie wirkte auf der kurzen Distanz zwischen der Tür und dem Direktor ein wenig verloren. Ihre Schultern waren angespannt nach oben gezogen, ihr Gang schnell und unsicher. 

Rossi legte ihr väterlich den Arm um die Schultern, als sie bei ihm ankam und stellte sie vor: „Das ist Jena. Sie wird uns ab heute begleiten."

Ihre Gesichtszüge wechselten von verunsichert zu einem schüchternen kleinen Lächeln. Ihr Blick flackerte nur einmal kurz über die Anwesenden, dann lag er wieder auf Rossi.

Sali begann zu grinsen und suchte in der Menge um ihn herum nach seinen Brüdern. Nach wenigen Sekunden entdeckte er sie. Die drei standen etwas abseits vom Geschehen und unterhielten sich leise miteinander. Auch sie warfen dem fremden Mädchen immer wieder abschätzige Blicke zu. Salis Blick landete auf seinem ältesten Bruder Taio. 

Trotz der Distanz zwischen ihnen sah er dasselbe boshafte Grinsen auf seinen Lippen, dass er selbst gerade trug. Als hätte Taio den Blick seines jüngeren Bruders auf sich gespürt, wandte er sich zu ihm um. Seine Augen funkelten gehässig, als er stumm einen Counter runterzählte und dann vier Finger in die Luft hielt. Sali selbst streckte nur drei in die Höhe. Sein Bruder hob eine Augenbraue, grinste ihn noch mal breit an und drehte sich wieder um. 

Dieses Spiel stammte noch aus ihrer Kindheit. Immer wenn jemand Neues, der nicht von einem anderen Zirkus kam, sich in ihre Zirkusfamilie drängen wollte, schlossen sie Wetten ab, wie lange sie brauchen würden, um denjenigen zu vertreiben. Taio tippte auf vier Monate, Sali auf drei. Da Rossi sie schon persönlich vorstellte, war klar, dass sie nicht zu den üblichen Helfern gehörte, die nach einigen Wochen von allein wieder verschwanden, weil sie die Anstrengung eines Tour-Alltags unterschätzt hatten. Er warf ihr noch einmal einen abschätzigen Blick zu. 

Das würde unterhaltsam werden.

Jena

Nachdem Leonardo mich den Akrobaten vorgestellt hatte, löste sich die Gruppe relativ schnell auf. Alle schienen heilfroh darüber zu sein, endlich den stickigen kleinen Raum verlassen zu können. Auf dem Weg zur Tür mussten sie an Leonardo und mir vorbei, dessen Hand immer noch fest auf meiner Schulter lag und mich am Gehen hinderte. Einige der Darsteller warfen einen neugierigen Blick auf mich, andere sahen mich genervt, gelangweilt oder überhaupt nicht an, als sie den Raum verließen. Die meisten jedoch musterten mich skeptisch und misstrauisch. Ich versuchte mich nicht verunsichern zu lassen und schenkte allen von ihnen ein kleines Lächeln. Als schließlich der Letzte den Raum verlassen hatte, drehte ich mich zu Leonardo um. 

Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, als er meinen verunsicherten Blick bemerkte. 

„Das wird schon. Wenn sie dich erst mal besser kennengelernt haben, werden sie dich in ihr Herz schließen. Gib ihnen Zeit.", sagte Leonardo mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, noch bevor ich ein Wort über meine Zweifel verlieren konnte. 

Ich nickte. 

Dass es nicht leicht werden würde, war mir von Anfang an klar gewesen.


Die Schatten ihrer VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt