2.1. Kinners

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Enervt beobachtete Oliver Dreier die ländliche Straße vor ihnen, die sich im Licht ihrer Scheinwerfer dahinschlängelte. Am Gebüsch auf der linken Seite und den Baumkronen über ihnen schlug sich das Blaulich hypnotisch nieder. Was die Bewohner der Häuser auf der rechten Seite wohl kaum begeisterte, aber den einschläfernden Effekt der Szenerie wirksam durchbrach, war das Einsatzhorn des NEFs, das um Kreuzungen herum immer wieder ertönte. Den Ellenbogen zwischen Fensterrahmen und Scheibe der Seitentür verkeilt und seinen Kopf darauf aufgestützt, brummte er unbegeistert: "Ich hasse die Abisaison." Müde fuhr er sich mit der Hand durchs Gesicht.

"Mehr oder weniger als den Motorad-Sommer?", hakte Nick nach, ohne sich von der Straße abzuwenden und ohne einen leisen Hauch von Emotion in der Stimme. Die Trockenheit seines Statements beeindruckte Oliver Dreier irgendwie ja schon.

Dennoch: "Soll das ein Witz sein? Als gäb es da derzeit irgendeinen große zeitlichen Unterschied", gab er deprimiert zurück. Der warme Frühling sorgte dafür, dass nur noch der Sonnenstand einen Unterschied machte. Wobei auch nächtliche Motoradtouren oder tägliche Opfer des sogenannten Vorglühens, das nicht zwingend an jenen bestimmten Anlass oder eine Jahreszeit gekoppelt war, nicht ausgeschlossen waren. Wenn das tatsächlich die globale Erwährung sein sollte, standen ihnen spaßige Zeiten bevor. Ihr aktueller Einsatz jedenfalls hielt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit an ihre Vorurteile. Hilflose, bewusstlose Person auf einer Abiturfeier. In ihrem Fall männlich. Irgendwo im Umland, Schräbergarten. Um halb zwei Uhr morgens. Top. Ob Sie nun wegen dem Stichwort "bewusstlose Person" oder aufgrund der vergleichsweise langen Anfahrt direkt mitalarmiert worden waren, hatte er in der Frühe vergessen zu hinterfragen.

"Erstmal schauen", hielt Nick pflichtbewusst den Optimismus hoch.

Schweren Herzens stimmte der Notarzt seinem Fahrer zu. Andererseits wusste er nicht was schlimmer war: Tatsächlich wegen einer neuen Riege mit Lizenz zum Hochschulbesuch in die Wallachei gefahren zu sein, um sich mit Betrunkenen herumschlagen zu dürfen, oder aber die Vorstellung, wegen nichts und wieder nichts die halbe Weltreise mit Blaulicht und Martinshorn hingelegt zu haben. Jedenfalls stand es nicht zur Diskussion, einfach nicht hinzufahren. Vielleicht war ja wirklich was. "Hoffentlich halten die Wort und weisen uns ein." So hatte es die Leitstelle verlauten lassen.

"Sonst müssen die nochmal nach der Pazelle fragen", räumte Nick ein, zu dessen guter Laune die Aussicht, in völliger Dunkelheit mit Taschenlampe und kompletten Equipment bewaffent durch die Kaserne aus Gartenhäuschen, Begonien und Jägerzäunen zu starksen, unglaublich gut passte. "Sonst orientieren wir uns einfach an der Musik. Die dürfte laut genug sein."

Freudlos lachte Oliver Dreier auf. "Auch wieder wahr."

Sie würden es gleich erfahren. Weit hatten sie es nicht mehr. Kaum eine Minute später bogen sie in die Einfahrt der Kolonie von Gardena-Jüngern ein, doch ihr Weg wurde von einem rot-weißen Poller versperrt. Immerhin: Neben dem Stahlpinn stand eine kaum weniger grazil anmutende junge Dame, die hektisch winkte.

"Hast du einen Dreikant?", fragte Oliver Dreier den Notfallsanitäter, der überrascht zu seinem Beifahrer schaute, daraufhin stumm nickte und in einer seiner Hosentaschen zu kramen begann, während der Notarzt sich seine Mappe schnappte und das Fahrzeug verließ. "Wir kommen sofort", rief er der weiterhin wedelnden Einweiserin zu. Trotz noch versperrten Weges machte er allerdings eine Entdeckung, die ihn milder stimmte: Die hörbare Musik jenseits der Frequenzen eines Martinshorn markierte gemeinsam mit den Lichterketten den Standort des Vereinsheims, das kaum 30 Meter entfernt war. Sehr gut. Theoretisch sogar fußläufig erreichbar.

Nick war schnell fündig geworden und hielt ihm den Innen-Dreikant hin.

"Hatten Sie angerufen?", fragte der Notarzt im Vorbeigehen das junge Mädel, das dem Aufzug nach - einem roten, knappen Cocktailkleid - entweder zur hier stattfindenden Abschlussfeier gehörte oder aber zu einer anderne festlichen Gelegenheit, die hier zwischen Kartoffelbeeten und akkurat gestutzten Rosensträuchern stattfinden mochte.

"Nein, das war Toni, aber Sie müssen schnell mitkommen! Da hinten im Vereinsheim ist jemand hingefallen."

Nachdem der Poller beseitigt war, trat Oliver beiseite, schob auch die junge Dame mit sich, damit die Einsatzfahrzeuge den nun freien Weg passieren konnten und wandte sich zum ersten Mal der Informatin zu. "Wir kümmern uns drum", versprach er, um der sichtlich besorgten Dame das Gefühl zu geben, ihren Auftrag erfüllt zu haben. Als nächstes wandte er sich an seinen NEF-Fahrer, der schon mit offener Beifahrertür hinter ihm wartete. "Fahr durch, zu den Lampen", navigierte er die Fahrzeuge zu ihrem Einsatzort, den Nick vermutlich bereits entdeckt hatte. Er selbst folgte zügig mit der Melderin. "Wissen Sie genau, was passiert ist?", fragte er währenddessen, um den Weg halbwegs sinnvoll zu nutzen.

Hektisch schüttelte das junge Ding den Kopf. "Nein, Toni meinte nur, ich solle mich hierhin stellen und auf Sie warten, weil wohl jemand hingefallen ist", wiederholte sie, was sie wusste - was nicht viel war.

Zumal es ganz neue Möglichkeiten eröffnete. "Hingefallen wie gestürzt? Oder zusammengebrochen?", hakte der Notarzt nach. Für ihn ein wichtiger Unterschied, doch die sparsame Mimik seiner Wegbegleiterin ließ ihn schon ahnen: "Wissen Sie auch nicht, okay."

Am Vereinsaheim angekommen, verteilten gerade die übrigen Einsatzkräfte das Material. "Nehmt vorsichtshalber auch gleich EKG und ...", wollte er die beiden RTWisten, Yannick Brandner und Karin Kippels bitten, hielt dann aber inne.

Unweit ertönte ein Geräusch, das er und die anderen nur zu gut kannte.

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