2.2. Kinners

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Im flackernden Schein des Blaulichts, der einen merklich größeren Beitrag zur Erhellung der Umgebung lieferte als die schummerige und in die Jahre gekommene Lichterkette, war die Ursache des bekannten Lauts vage zu erkennen. Zwei Personen standen an einem Zaun, eine davon sichtlich weit über das hölzerne Geländer gelehnt. Vermutlich war sie die Quelle der Würgelaute, die von hörbarem Plätschern begleitet wurden. Beides schaffte es, die wummernden Bässe amtierender oder längst vergangener, aber leider nicht vergessener Schlagerikonen aus dem Inneren des Vereinsheims zu übertönen.

"Na super", seufzte Dreier möglichst tonlos. "Okay, Planänderung. Yannick und Karin, ihr seht da vorn nach dem Rechten. Bestellt wenn wirklich nötig einen zweiten RTW nach. Nick und ich schauen uns an, was drinnen ist." Deshalb waren sie schließlich hergekommen und ein potenziell Bewusstloser hatte eine höhere Priorität als ein rebellierender Magen. Hoffentlich hingen die beiden Fälle nicht unmittelbar zusammen.

Allerdings war die junge Dame, die sie eingewiesen hatte, als er sich wieder umdrehte, vom Erdbogen verschluckt worden, so dass sie ihren Weg selbst finden mussten. Sein Fahrer folgte ihm die vier Stufen zum Eingang des Vereinsheims hoch, wo ihnen bereits zwei Feiernde jüngeren Semesters entgegenstolperten. Beide schauten mehr als überfordert auf, als sie ihnen unbeholfen auswichen, sich glücklicherweise aber fingen und nicht über die eigenen Füße fielen.

"Langsam", mahnte Oliver den männlichen Part des gemischten Duos, den er, als er an ihm vorbeigestrauchelt war, sicherheitshalber am Arm gepackt hatte. Dass er gleich jemanden aus der Gruppe direkt vor sich hatte, konnte allerdings durchaus hilfreich sein, erinnerte er sich. "Wisst ihr, wo wir hinmüssen?"

Ahnungsloses Kopfschütteln und ein unbeholfenes Deuten ins Innere des Hauses.

"Danke", rang sich Nick statt des Notarztes eine Würdigung der Bemühung ab, ehe sie den lauten, vollen Raum betraten, in dem es offenkundig noch niemand für nötig erachtet hatte, die Musik leiser zu drehen. "Rettungsdienst!", begrüßte der Notfallsanitäter die Feiernden in eindringlichem Tonfall, so dass sich zumindest ein Teil der Abiturienten zu ihnen herumdrehte. "Kann einmal jemand die Musik leiser drehen?" Zwar war es unmissverständlich eine Fragestellung, aber trotz erhöhtem Alkoholspiegels erkannte die Menge, dass er darüber nicht ernsthaft diskutieren wollte und enthielt sich aller Widerreden. Eine Erfüllung seines Wunsches trat allerdings auch nicht augenblicklich ein.

Dafür brauchten sie nicht weiter zu fragen, wohin sie gehen mussten. Um die Bar, die links unweit vom Eingang halbkreisförmig in den Raum ragte, hatte sich eine Traube von Menschen gebildet, die mengenmäßig und anhand der hohen Dichte aus dem allgemeinen Bar-Pulk herausstach. Das war deutlicher als jede Leuchtrakete und genau deshalb bahnten sich die beiden Herren ihren Weg genau dort hin.

"Einmal ein Stück beiseite", dirigierte Oliver Dreier die träge folgende Menge nach und nach auseinander, bis er endlich einen Blick auf den Ursprung werfen konnte. Auf dem gefließten Boden lag das ihnen angekündigte hilflose, männliche Wesen, wobei dem Notarzt wohlwollend auffiel, dass zumindest eine Person sich berufen gefühlt hatte, dieser beizustehen.

Der augenscheinlich Bewusstlose, dessen Brustkorb sich glücklicherweise sichtbar hob und senkte, lag mit dem Oberkörper halb auf dem Schoß eines Herrn, den das Geschirrtuch, das er über die Schulter geworfen hatte, als Barkeeper oder Kellner entlarvte. Er war einer der wenigen, denen ernsthafte Sorge anzusehen war. Zwei, drei besonders dreiste Umstehende begnügten sich dagegen nicht mit einer temporären Beschauung des Unglücks, weshalb er sich eine Anmerkung nicht verkneifen konnte: "Und wenn die Handys nicht sofort weg sind, gibt's hier richtig Ärger."

Er ahnte, dass er das heute nicht nur einmal sagen müssen würde, als er sich zu den beiden bodennahen Individuen herunterkniete. "So, was ist hier passiert?", wandte er sich an den Kellner, während er den Pulsoxy-Clip am Finger des blassen Jungen befestigte, der in Halb-Acht-Stellung mit halboffenen, ins Nichts starrenden Augen auf dem Schoß des Helfers hing. Im nächsten Moment griff der Notarzt an dessen Handgelenk. Die Hände seines Patienten waren kalt und verschwitzt. Von dem Erbrochenen auf dem grauen Pulli ging nicht nur der bekannte bitter-widerlich-süße Geruch aus, sondern eine dezent stechende Note, die sowohl zum Zustand des Patienten als auch der allgemeinen Umgebung wunderbar passte: Alkohol.

"Ihm ging's plötzlich nicht gut und als er vor die Tür gehen wollte, ist er umgefallen", fasste der Getränkebeauftragte das Geschehen hörbar überfordert zusammen. "Ich versteh auch nicht, wie ...", setzte er an, wurde aber von Dreier unterbrochen.

"Nick, lass uns den einmal vernünftig hinlegen", bat er seinen Assistenten. Die abstrakt zerknitterte Haltung, in welcher der Junge verharrte, gefiel dem Notarzt hinsichtlich seiner Arbeitsdiagnose und der minimalen, wenig koordinierten Bewegungen des Kopfes und der Hände nicht und wirklich gut ließ sich der Puls nicht tasten. Dass in der Hitze, nach zu viel Stoff aber der Kreislauf mal ins Straucheln kam, war keine Weltsensation. "Ist er auf den Kopf gefallen?", fragte er an den Kellner gewandt.

Noch bevor sie den Oberkörper anheben konnte, erklang auch ein klägliches Gurgeln, das einem trockengelegtem Siffon gleichkam und kaum hatten sie ihn von dem Kellner herunter auf die Seite gedreht, ergoss sich ein spärliches, dünnflüssiges Rinsaal von gelblich brauner Farbe auf die okerfarbenen 80er-Jahre-Fliesen der Örtlichkeit.

"Nein, ich stand da gerade neben ihm. Er wollte raus, an die Luft und ist dann direkt vor mir in die Knie gegangen. Bis gerade hatte er noch immer so ein bisschen geredet", erklärte der Kellner fassungslos und fuhr sich mit den Händen verzweifelt durch die Haare. Dass das hinsichtlich dessen, was er zuletzt teilweise festgehalten hatte, nicht die beste Idee war, lag augenscheinlich gerade nicht in seinem Fokus.

"Absaugung, einmal Vitalparameter, Zugang, Flüssigkeit und frag mal bei den anderen nach, wie es da aussieht", bat Dreier seinen Assistenten, der den ersten Punkt schon im Begriff war abzuarbeiten, während der Notarzt bereits dazu überging, den Schädel des auf der Seite dämmernden jungen Mannes vor sich abzutastete, jedoch keine Wunden oder Schwellungen fand. Dann war endlich eine Sekunde für den Versuch der direkten Kommunikation mit seinem Patienten. Nachdrücklich versenkte er zwei Finger zwischen Schulterblatt und Schlüsselbein des am Boden Liegenden. "He, einmal Augen aufmachen!", gab er parallel eine kleine Denkhilfe, was eine adäquate Reaktion darauf wäre, doch der Alibispalt durch den die regungslosen Augen hindurchblitzten, blieb unverändert schmal.

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