2.5. Kinners

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Weil der Notarzt es wie seine drei Kollegen nicht leiden konnte, Gefahren im Rücken zu haben, drehte er sich zu der Lärmquelle um, die augenscheinlich zu einem der Feiernden gehörte.

Ein junge Mann im Alter ihres Patienten funkelte den Barkeeper wütend an. "Du kannst nicht einfach abhauen!", warf er ihm vor und gestikulierte wütend in dessen Richtung.

"Du siehst doch, was hier los ist!", wetterte der Barkeeper gegen den Jüngeren. "Ich finde, das geht hier echt vor."

Wahre Worte, aber das sah der Feierfreudige unübersehbar anders. Er verdrehte genervt die Augen. "Eh, wenn Jakob sein Limit nicht kennt, ist das sein Bier. Du kannst nicht abhauen! Du bist der Einzige an der Bar. Das soll hier schließlich ein cooler Abend werden."

Bei so viel Dreistigkeit verschlug es Oliver Dreier und auch seinen Kollegen für wenige Momente die Sprache - aber nur kurz.

"In den fünf Minuten wird schon niemand verdursten, Sev", knallte der Barkeeper dem frischgebackenen Abiturienten vor den Latz, der diese Ansage nun seinerseits stumm und mit großen Augen verdauen musste.

Das Team um Dreier feierte diese klare Positionierung insgeheim sehr, wenn der Notarzt auch nur schlicht verlauten ließ: "Wir müssen dann", um nicht auch noch Anlass für weiteren Unmut zu liefern. Damit bewegten sie sich weiter nach draußen, wenn sie hinter sich auch noch einen wütenden Aufschrei vernehmen konnten, der sich aber glücklicherweise von ihnen entfernte.

Kaum hatten sie die Türschwelle erreicht, drehte der DJ voll auf, was ihnen noch ein wunderbares Schmankerl für das Trommelfell bescherte. Diesmal in Form von Marianne Rosenberg, was hintergründig die Frage in ihm aufkeimen ließ, warum man ausgerechnet diese schlechten, überwundenen Angewohnheiten hochhalten musste. Das passierte wohl, wenn man Eltern nicht mehr mit Rockmusik und Punk schocken konnte.

Zum RTW kamen sie ohne weitere Zwischenfälle. Zwar saßen auf der Bank jene beiden Vertreter der jungen Generation, die die RTW-Besatzung zu Beginn in Beschlag genommen hatten, doch auf beiläufige Nachfrage von Yannick winkten sie ab und meinten, es wäre alles gut. Der angeschlagene junge Mann hielt auch ein Glas Wasser in den Händen. Zumindest ließ die klare Flüssigkeit hoffen, dass es sich um solches handelte. Falls nicht, würde es seinen Abend wenigstens wirksam besiegeln.

Ihr Patient dämmerte auf der Trage vor sich hin, ohne sich über den Transport über den Schotter zu beschweren. Seine Werte blieben derweil unverändert, was immerhin hieß, dass sie nicht schlechter wurden. Als sie ihn über das Schienensystem in den Kastenaufbau luden, war ihre kurze Glücksträhne aber auch schon wieder vorbei.

"Toni, das ist nicht dein Ernst, oder?", brüllte derselbe junge Mann, der sie gerade schon aufgehalten hatte. Er stand in der Tür des Vereinsheims und sah trotz der spärlichen Beleuchtung unverkennbar wütend aus. Gesichtsausdruck und Hautcolorit lieferten darauf sachdienliche Hinweise.

"Komm, geht rein", trieb der Notarzt seine Leute an, die skeptisch in die Richtung des Schreihalses schauten. Dreier dagegen hoffte, dass der junge Mann von ganz allein aufhörte, wenn man nicht auf seine Rufe einging. Gerade wenn er auf Streit aus war, war es das Dümmste, das sie tun konnten, ihm auch noch einen Anlass zu geben, sich ausgerechnet an ihnen festzubeißen.

"Sev, geh wieder rein!", redete dagegen der Barkeeper auf ihn ein. Es war hörbar keine Bitte, sondern klang schon mehr nach einem routinierten Befehl. Eine unverkennbare Anweisung, von der er erwartete, dass sie auch erfüllt wurde. Und auch, wenn Sev erneut wütend aufstöhnte, verschwand er nach drinnen.

"Geht doch", murrte der Notarzt und folgte seinen Leuten nach drinnen. Die Folgsamkeit des Querulanten überraschte ihn jedoch. "Lasst mich mal vorbei", meinte er, als er sich an Yannick vorbeimogelte, der zu seiner Verteidigung vorzubringen wusste: "Ich mach mich schon so dünn wie geht."

"Was soll das jetzt heißen?", schoss Dreier zurück, worauf sich der Assistent jeder Antwort enthielt, wenn auch seine Mundwinkel kurzzeitig eine Spur zu amüsiert nach oben zuckten. Am Kopf des Patienten angelangt, malträtierte er noch einmal dessen Brustbein, um in Kombination mit einem wenig zaghaften "Jakob, noch da?" eine Reaktion zu provozieren, die allerdings über das schon bekannte, wenig hilfreiche Brummeln und benommenes Winden nicht hinauskam. "Absaugung hast du griffbereit?", fragte er an Karin gewandt, die just in dem Moment einen Kotzbeutel bereitlegte. "Dann hör ich noch eben auf die Lunge, wo ich endlich wieder was höre, und dann können wir los."

"Druck wird aber auch nicht wirklich besser", gab Nick kritisch zu bedenken. "Neunzig zu fuffzig."

"Ja, ich weiß, aber irgendwas passt hier nicht ganz zusammen. Der kann nicht nur gesoffen haben", entgegnete der Notarzt, der über diesen Umstand auch absolut nicht glücklich war, aber sich entschlossen hatte, die grenzwertigen Parameter erst einmal so zu nehmen, wie sie nun einmal waren, solange sie stabil blieben. Während er die Lunge abhörte, wandte sich sein Assistent noch einmal an den Barkeeper, der, als Dreier sein Stethoskop wieder absetzte, gerade antwortete.

"Der war vorher schon ein wenig fertig mit der Welt, hat von Anfang an ziemlich verloren gewirkt. Saß an der Bar, hatte mit niemandem was zu tun. Da hab ich mich halt mit ihm unterhalten, war auch ganz nett", berichtete er nachdenklich, was sie leider aber keinen Zentimeter weiterbrachte. "Zwischendrin hat er dann mal eine Kopfschmerztablette genommen, wurd dann auch stiller, aber das war's, bis er dann eben raus wollte und mir quasi in die Arme gefallen ist."

Da wurden alle vier hellhörig. "Wissen Sie, dass das Kopfschmerztabletten waren, oder glauben Sie das nur?", hakte Dreier sofort nach.

Ohne, dass er es sagen musste, suchte Yannick bereits in den Taschen des Patienten nach den angesprochenen Medikamenten.

Unsicher zuckte Toni mit den Schultern. "Er meinte, es seien Kopfschmerztabletten, weil er auf die Musik nicht so klarkäme. Die waren so rot und rund. Hat der über den Abend eine oder zwei von genommen. So genau hab ich's nicht gesehen."

Skeptisch hob der Notarzt die Augenbrauen. Rot? Auf die Schnelle fiel ihm kein passendes Präparat ein, aber just in diesem Moment förderte Brandner einen Blister aus einem Seitenfach des Portmonees zutage. Die Aufschrift auf der Rückseite stieß erneute Fragen auf und rückte die Lage in ein neues Licht, das leider nicht besser war als das vorherige. "Also Kopfschmerztabletten sind das keine und Traubenzucker auch nicht", informierte er den Barkeeper zögerlich. "Hat er zufällig was von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erwähnt? Bluthochdruck oder Herzinsuffizienz? Irgendwas in der Richtung?" Mit einem Mal wusste er das unauffällige EKG umso mehr zu schätzen und dass sie bisher auf eine Schocklagerung verzichtet hatten, bedauerte er hinsichtlich der möglichen Herzkreislauferkrankungen, die nun im Raum standen, auch nicht.

Bei den Begriffen, mit denen man ihn plötzlich konfrontierte, wurde der Barkeeper ein paar Spuren blasser. Auch ohne zu verstehen, was hier vor sich ging, schien er eine Ahnung haben, dass die Lage ernst war. "Nein", antwortete er kopfschüttelnd. "Ich kenn ihn auch nicht wirklich. Ich hab mich heute zum ersten Mal mit ihm unterhalten. Das ist die Abifeier meines Bruders, da kenn ich kaum jemanden", erklärte er sich weiter. "Ich kann mal gucken, ob ich meinen Bruder finde und ob der was weiß, oder irgendwie die Lehrerin. Die müsste hier auch irgendwo sein", schlug er völlig verdattert vor. Oliver meinte ein verunsichertes Zittern in seiner Stimme herauszuhören.

"Wenn Sie meinen, Sie finden die auf Anhieb, wär das keine schlechte Sache", erwiderte Dreier, woraufhin sich der Herr sofort auf den Weg machte. Währenddessen wandte sich der Notarzt an seinen Fahrer: "Dann einmal Intubation für den Fall der Fälle vorbereiten und irgendwer kann uns schonmal anmelden mit Mischintox." Vom aktuellen Standpunkt wäre es ihm nun deutlich lieber gewesen, sie wären für nichts und wieder nichts ausgerückt.

"Hab ich das richtig gesehen? Betablocker?", fragte sein Fahrer und deutete auf den Blister. "Das passt ja gut mit seinen Werten."

"Jup, Propranolol", bestätigte er dessen Beobachtung. "Passt aber leider beschissen zu dem Pegel, den er woher auch immer hat", gab Dreier missmutig zurück. "Und mich würd interessieren, warum er das Zeug überhaupt nimmt."

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