2.3. Kinners

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Kurzerhand zog der Notarzt die Lider seines Patienten vorsichtig nach oben, um mit der Pupillenleuchte eine Reaktion zu provozieren, die glücklicherweise nicht völlig ausblieb, jedoch erwartungsgemäß träge ausfiel. Lediglich ein Zucken des Armes, der nicht so recht wusste, wohin mit sich, war alles, was er von Seiten seines Patienten bekam, weshalb sich Oliver wieder an den Kellner hielt. "Also, ich kann ziemlich gut verstehen, wie das passiert", kam er auf dessen Verwirrung zurück. "Wie viel hat er denn getrunken? Und wissen Sie, wie er heißt? Alter?"

"Er heißt Jakob", antwortete der Barkeeper und fuhr sich nervös durch die Haare.

Da nichts weiter kam, hakte der Notarzt nach: "Und wie viel hat er getrunken?"

"Gar nichts!", entgegnete der Kellner energisch. "Ich hab dem nicht einen Tropfen ausgeschenkt!"

"Und sein Alter?", bohrte Dreier weiter, dem mal wieder auffiel, warum viele Fragen auf einmal nicht weniger Aufwand bedeuteten.

"Neunzehn, glaub ich."

"So eine Memme", tönte es aus dem Pulk hinter ihnen, dem glücklicherweise jemand der Umstehen weiblichen Wesen "Mann, geht's noch?" entgegensetzte.

Die Antwort des Kellners tat der Notarzt mit einem Nicken ab und schluckte den unqualifizierten Kommentar an das Publikum herunter, denn in der Zwischenzeit hatte er einen Blick auf den Sättigungsclip geworfen. "Hm, sechsundneunzig Prozent", brummte er, während er im Hintergrund wahrnahm, dass Nick über Funk die Besatzung des Rettungswagens kontaktierte. Astrein war das nicht, aber die Luft in dem Kabuff war auch eine Strafe und konnte die geringfügige Abweichung erklären. Viel beunruhigender fand er noch etwas anderes: "Puls nur bei achtundvierzig. Nick, ich will auch ein EKG. Und Sauerstoff." Haben war immer besser als Brauchen. Für "nur Alkohol" war das doch etwas sehr mau.

Nicks Miene blieb professionell, aber im stoischen Ton, in dem er "Geht klar, Absaugung steht, Druck systolisch auch nur bei knapp hundert" zurückmeldete, erkannte Oliver Dreier die unterschwellige Nachricht: "Ich will auch so Vieles."

Hinter ihnen hörte man es Kichern, als jemand meinte: "Schon peinlich, so bei der ganzen Stufe in Erinnerung zu bleiben", was den Notarzt zu dem Hinweis "Wer nichts Sinnvolles beizutragen hat, der darf sich meinetwegen gerne an die frische Luft entfernen" motivierte.

Im nächsten Moment erhielten sie glücklicherweise die Antwort via Funk: "Unserer will sich eh nicht behandeln lassen. Sind auf dem Weg." Das würde die Arbeit ungemein erleichtern.

"Lass die gleich die Trage mitbringen", wies Dreier seinen Assistenten an und drehte den jungen Mann vorsichtig zurück auf den Rücken, dessen Mundraum inzwischen glücklicherweise schwerkraftbedingt frei von Snackrückständen war. Die derzeitige Arbeitsatmosphäre war nicht nur wegen der leisen, aber schlechten Musik zweifelhaft, sondern auch wegen der Missgunst der Umstehenden alles andere als glücklich. Außerdem war die Chance, dass sie hier viel an den Tatsachen änderten, auch sehr gering, so dass sie auch zusehen konnten, schnell Land zu gewinnen.

Der Junge am Boden ließ ein unverständliches Brummen vernehmen, das vermuten ließ, dass er kaum was von dem Gebahren seiner vermeintlichen Mitschüler mitbekam. Er drehte den Kopf unwillig weg, sobald der Notarzt ihn losgelassen hatte. Immerhin ein Funken an Reaktion, wenn er auch auf einen erneuten Schmerzreiz und ein nachdrückliches "He, Jakob, einmal die Augen aufmachen!" kaum artikulierter reagierte.

"Und die anderen bitte alle einen Schritt zurück", mahnte Nick, der die Kleiderschere bereits in der Hand hatte, die Menge um sie herum an, die ihnen in den letzten Sekunden wieder nervtötend nahe auf die Pelle gerückt war.

Auffordernd hielt er der Notfallsanitäter die Hand hin. "Gib schon mal den Zugang", bat er seinen Assisenten, der nun einmal nicht als Oktopus zur Welt gekommen war.

Bereitswillig rückte der Notfallsanitäter das Material heraus, ehe er den Pullover des jungen Mannes mittig trennte.

In Dreiers Erinnerung war da noch die zweifelhafte Information des Kellners, zu dem er wieder aufsah, während er den Handrücken des Patienten desinfizierte: "Gar kein Alkohol?", hakte er nach und machte sich nicht die Mühe, seinen Unglauben darüber zu verbergen. "Riechen tut das aber anders." Und das Desinfektionsmittel hatte bis vor wenigen Sekunden wenig damit zutun gehabt. Inzwischen kamen ihm allerdings Zweifel, dass das alles war. Er hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache.

So vehement, ratlos und verzweifelt, wie der Barkeeper auf diese Information hin den Kopf schüttelte, war der Notarzt fast geneigt, ihm zu glauben, als er meinte: "Wirklich, er hat nicht ein alkoholisches Getränk bestellt und ich hab ihm ganz sicher nichts ausgeschenkt. Ich hatte die ersten zwei Runden nachgefragt, aber er ist bei Schorle und Wasser geblieben. Echt", beschwor er nachdrücklich.

Noch bevor Oliver darauf etwas erwidern konnte, vernahm er hinter sich erleichtert eine bekannte Stimme mit einem ihm wohlbekannten Text und das Klappern der rollenden Transportliege: "Einmal beiseite bitte", rief Yannick Brandner durch die Menge, die so zäh auseinanderstob wie wenige Minuten zuvor, als Nick und er sich ihren Weg hatten bahnen wollen. Begleitet wurde er von unsagbar hilfreichen Hinweisen wie "Tja, ich glaub für den ist die Party gelaufen" oder "So schlimm hab ich mich seit der Achten nicht mehr abgeschossen".

"Und alle mal einen Schritt zurück", fügte Karin, die ihrem Kollegen folgte, freundlich wie sie war, an. Sie konnte sich vermutlich denken, dass das nicht die erste Aufforderung war, aber manche brauchten ein wenig länger und man half ja gerne. Für diese Geduld bewunderte der Notarzt sie ein bisschen, da er den Kaffee fast schon wieder auf hatte.

Immerhin hatte Nick den Pullover inzwischen so weit entfernt, dass er EKG-Elektroden und Blutdruckmanschette vom Monitor hatte anbringen können, so dass sie endlich ein paar Informationen mehr hatten.

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