2.6. Kinners

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Hinsichtlich der Wechselwirkungen wurde es jetzt doch spannend, sollte sich der Zustand des Jungen weiter verschlechtern. Je mehr Unbekannte, desto mehr wurde das zum russischen Roulette. "Warum auch einfach, wenn's auch kompliziert geht?", murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin. "Machst du mal Atropin fertig? Falls der doch noch weiter runtergeht?"

"Keine Lust zu intubieren?", fragte der Notfallsanitäter trocken, während er das Material und die Medikamente vorsichtshalber vorbereitete, aber der Notarzt wusste, dass sein Fahrer ihn aufziehen wollte.

"Was muss das muss, aber ich schlag mich gerade nicht drum, solang er stabil ist. Weißt'e doch, wie d'es machst, machst'es falsch", gab Dreier zurück, ehe er sich an die anderen beiden wandte. "Bei den Papieren war auch kein Hinweis oder so?" Gab es wirklich keine Unbekannte, die sich irgendwie ausschließen ließ?

Karin, die ihren friedlich dämmernden Schützling fürsorglich im Auge behielt, schüttelte bedauernd den Kopf, während ihr Kollege ebenso begeistert mit den Schultern zuckte.

"Kein Zettel, kein Hinweis und im Handy sind auch keine Notfallinformationen gespeichert", informierte Brandner den Rest des Teams. "Krankenkassenkarte hat er übrigens auch keine bei." Das würde man entsprechend im Nachgang klären müssen.

Dafür hatte Karin eine Idee. "Wenn das Handy nicht gesperrt ist, kommt man da irgendwie an Nummern von Angehörigen?"

Yannicks Kopfschütteln war aber Antwort genug. "Das Handy war aber gesperrt", musste er ihr leider wiedersprechen.

Jetzt war Karin verwirrt "Aber meintest du nicht gerade ..."

"Der hat 'ne recht neue Android-Version drauf. Da ist unten so ein Notfallknopf, da kann man neuerdings nicht nur ohne PIN die Feuerwehr oder Polizei rufen, sondern auch Informationen hinterlegen - wie zum Beispiel Vorerkrankungen oder Notfallnummern. Ist aber leider bei ihm leer", erklärte ihr jüngerer Kollege geduldig der überraschten Rettungsassistenten.

Anerkennend nickte sie. "Sachen gibt's", murmelte sie, ehe sie sich wieder ihrem Patienten zuwandte.

"Hilft uns aber nicht weiter, wenn's keiner ausfüllt", setzte Dreier der Diskussion missmutig ein Ende, bevor er einen Blick auf die Uhr warf. "Hilft ja nix", brummte er und belästigte ihr Dornröschen abermals mit einem Schmerzreiz, das zwar die Augen zusammenkniff und die Gliedmaßen im Rahmen seiner Möglichkeiten näher zu sich heranzog, aber die Zähne gerade mal für ein "Gnrf" weit genug auseinanderbekam. Von der Seite war keine Mithilfe zu erwarten. "So, wo bleibt der Kellner?" Wenn er nicht in den nächsten paar Sekunden wiederkam, würden sie sich so auf den Weg machen. Zwar war es im beheizten Patientenraum recht behaglich, aber der Rückweg würde auch noch einiges an Zeit in Anspruch nehmen und wer wusste schon, ob ihr Patient so stabil blieb, wie er es momentan war?

Wie auf's Stichwort wandten sich alle vier Retter um, als sie draußen den Kies knirschen hörten. Personen, die sich ihnen näherten und die Schritte waren nicht das einzige, was zu hören war.

"Jetzt komm schon wieder mit rein, Toni", ertönte die Stimme des teils aggressiven jungen Mannes, der ihnen noch nicht persönlich vorgestellt worden war, dessen Bekanntschaft sie aber auch nicht unbedingt machen wollten. "Die Mädels wollen halt noch Cocktails haben und die kann ich nicht mixen." Wenn das kein Grund war, die Fünfe gerade sein zu lassen und wieder reinzugehen.

"Sev, geh du doch einfach wieder rein und lass mich in Ruhe. Ich komm ja gleich, aber erstmal kläre ich das, okay? Was willst du hier? Du hast gesagt, du weißt nichts zu Jakob", fuhr der Barkeeper den Jungen noch bestimmter an, als es vorher der Fall gewesen war. "Drück denen halt 'ne Fanta in die Hand. Da ist Orange drin. Steht zumindest drauf."

Die milde Reaktion des Jüngeren ließ das Verhältnis der beiden überraschend vertraut wirken. "Ich versteh halt einfach nicht, warum du noch hier draußen bist! Jacky hat sich abgeschossen, aber das ist doch nicht dein Problem und meins auch nicht. Komm halt einfach wieder rein. Dafür hab ich dich hier überhaupt angeschleppt!" Gut, milde war vielleicht doch nicht die richtige Bezeichnung, aber wenigstens ging er dem Barkeeper scheinbar nicht an die Kehle.

"Scheint aber auch nichts zu bringen", murrte Dreier unzufrieden vor sich hin. Ob die beiden jemals bei ihnen ankämen oder sich in ihrem Streit verlören, war hinsichtlich des mangelnden Wissens, das ihren Patienten betraf, im Grunde egal.

Plötzlich seufzte eine Person demonstrativ genervt und sie ließ sich keinem der beiden jungen Männer zuordnen, sondern, wie auch die nachfolgenden Worte, einer jungen Dame. "Sev, im Ernst, dass es Jacky so scheiße geht, da bist du ja wohl nicht ganz unschuldig, oder?"

Da spitzte der Notarzt doch die Ohren und auch seine Assistenten horchten auf.

"Was soll das heißen?", fragte Toni argwöhnisch nach.

Eine Frage, die sie sich auch im Inneren des Wagens stellten.

"Ich geh mal gucken", meinte Nick erstaunlich ruhig und stahl sich durch die Seitentür nach draußen, um sich das Trio einmal vorzuknöpfen. Vielleicht kam da ja doch noch was Brauchbares bei rum.

Noch während er sich seinen Weg bahnte, ging die Diskussion draußen weiter. "Ach, was ist das denn mein Problem, wenn der nix verträgt? Was bleibt der dann überhaupt so lange? Der hätte doch um zehn oder so abhauen können, damit die Großen auch mal Spaß haben können", entgegnete Sev dem Barkeeper trotzig.

"Weil ich ihn überredet habe, zu bleiben", fuhr Toni ihn wütend an. "Weil das auch sein Abschlussabend ist, du verdammter Egomane! Das ist auch sein Jahrgang und seine Feier, deshalb habe ich gesagt, dass er bleiben soll. Und jetzt rückst du endlich damit raus, was du damit zu tun hast!"

"Das würde uns allerdings wegen der Behandlung auch interessieren", ließ Bachmann stoisch wie meistens verlauten.

Im RTW schob Oliver Dreier sich, nachdem er sich noch einmal der Atmung seines Patienten versichert hatte, an der Trage vorbei zur angelehnten Hecktür des Wagens und linste interessiert hinaus. Glücklicherweise klangen die beiden Parteien nicht sonderlich friedlich, schienen aber nicht direkt vor einer gewaltsamen Eskalation zu stehen, was er vor allem deshalb wohlwollend erkannte, weil sein NEF-Fahrer kaum zwei Schritte von ihnen entfernt stand und sich nun vernehmlich räusperte. Neben den drei bekannten Stimmen, standen noch wenige weitere Personen etwas Abseits, die das Geschehen beobachteten.

Der strohblonde Querulant verdrehte genervt die Augen. "Gar nichts hab' ich gemacht", versuchte er sich aus der Sache herauszureden, was ihm aber kaum jemand abnahm.

Einschließlich seiner weiblichen Begleitung. "Jetzt steh doch wenigstens dazu!", blaffte sie ihn wütend an. "Ich hab dir gleich gesagt, dass das eine verdammte Scheißidee ist. Wengistens heute hättest du ihn einfach mal in Ruhe lassen können." Bestimmt verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und baute sich vor dem jungen Kerl auf, der sie trotzdem noch um fast einen halben Kopf überragte und sie vermutlich deshalb nicht allzu ernst nahm. Stattdessen drehte er sich bloß kopfschüttelnd weg.

Nick interessierten die pubertären Differenzen herzlich wenig. Er wandte sich direkt an die junge Frau. "Ehrlich gesagt ist es uns ziemlich latte, von wem wir die Information kriegen. Wir sind nicht die Polizei und kein Schwurgericht", erklärte er mit erstaunlicher Geduld, aber dennoch Nachdruck in der Stimme. "Wir wollen einfach nur wissen, was passiert ist, damit wir eurem Mitschüler ..."

"Ex-Mitschüler", korrigierte ihn der Junge, den alle bisher Sev genannt hatten, eindringlich.

Als der Notfallsanitäter fortfuhr, ließ er sich sein dünnes Nervenkostüm zum ersten Mal anmerken. "Es ist mir ehrlich gesagt herzlich egal, in welchem Verhältnis ihr genau zueinander steht. Wir können ihm nicht helfen, wenn wir nicht wissen, was passiert ist!", fuhr er dem Jüngling gekonnt mit der gebotenen Sachlichkeit in die Parade, bevor er wieder zu der Frau in ihrer Begleitung sah. "Und wenn Sie wissen, was passiert ist, können Sie mir das ja auch direkt sagen. Es geht hier jetzt nicht um Ehre oder erzieherische Maßnahmen. Dem Jungen geht es echt verdammt schlecht. Wir stehen hier echt nicht zum Spaß in der Gegend rum."

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