2.4. Kinners

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Nachdem der Notarzt den Zugang gelegt, festgeklebt und die Nadel zur Blutzucker-Messung an den Notfallsanitäter weitergegeben hatte, rutschte er zum Kopf des Patienten herum. Er war allerdings darauf bedacht, seine Hose nicht unbedingt direkt durch die Pfütze von Erbrochenem zu ziehen. Währenddessen setzte er die beiden Kollegen ins Bild: "Männlicher Patient, nicht ansprechbar, bradykard, hypoton, hat außerdem erbrochen. Es riech ziemlich nach Alkohol, auch wenn der Kumpel hier meint, er wär den ganzen Abend trocken geblieben. Lasst den gleich am besten direkt umlagern und dann in den ..."

Weiter kam er nicht, denn plötzlich explodierte der Lärmpegel, als die zuvor heruntergeregelte Musik mit den wundervollen Zeilen "Aber scheiß drauf!" unter lautem Jolen der anderen Jugendlichen auf gefühlte zweihundert Dezibel hochdrehte wurde.

"Ich krich zu viel", knurrte der Mediziner in der ersten Wut vor sich hin, kam dann aber nicht dazu, lauter zu werden. Da hatte er ja einen ganz besonderen Haufen aufs Auge gedrückt bekommen.

"Die Musik leise!", brüllte stattdessen Nick Bachmann, der Yannick gerade die Infusion zur Vorbereitung rübergereicht hatte und dem vor Schreck fast die BZ-Messstreifen aus der Hand gefallen wären.

Seine freundliche Bitte blieb jedoch folgenlos, sondern wurde von der gröhlenden und hüpfenden Menge lediglich mit einem erstaunlich gleichstimmigen "Oleee, oleee!" quittiert.

"Und der Rest geht zurück! Wir brauchen hier Platz zum Arbeiten", verteidigte der Notfallsanitäter ein weiteres Mal lautstark ihre Sphäre, die schon wieder enger geworden war, weil den Umstehenden augenscheinlich schon wieder entfallen war, was man ihnen vor einer Minute verklickert hatte.

Erneut ertönte der Refrain und verkündete "Malle ist nur einmal im Jahr!", was schön gewesen wäre, aber in der Realität so aussah, dass "Malle" immer dann war, sobald der DJ wusste, dass sein Publikum im Durchschnitt mindestens ein Promill hatte, jegliche Mühe ohnehin weniger zu schätzen wüsste als derartige Dauerbrenner und sich für den Rest des Abends seine anspruchsvolleren Mixes besser für andere Anlässe aufsparte - falls er überhaupt welche besaß. Bessere Musik hätte aber auch nicht viel an der Situation geändert.

Die Musik blieb trotz ihres Protests laut. Ganz im Zeichen der lyrischen Zeilen schien es die Feiernden einen Scheiß zu kümmern, dass es hier jemandem ziemlich schlecht ging.

"Lass direkt einpacken!", hielt der Notarzt dem Lärm zum Trotz seinen Assistenten zurück, der ihm das Messgerät mit einem soliden Wert von siebenundneunzig hinhielt. Was seinem Patienten zudem an Druck fehlte, hatte er selbst locker zu viel. "Wir sind mit dem schneller hier raus, als dass wir am Mischpult sind", begründete er seine Entscheidung, obwohl er am liebsten jemandem die Meinung gegeigt hätte, aber bei einem derart sparsamen Puls und einem Blutdruck, der systolisch nicht einmal von Zeit zu Zeit die Hundert schaffte, musste das warten. Immerhin der Rhythmus war regelmäßig und die Sättigung hatte sich auf achtundneunzig eingependelt. "Aber hol besser mal die ...", brüllte er über die Malloca-Hits hinweg, die so abrupt, wie sie zuvor angeschwollen waren, wieder an Lautstärke verloren, so dass nur das muntere Mitgrölen der Jugendlichen blieb, das in ein verstimmtes, nöliges Beschwerdegemurmel überging. Damit verwarf er seinen Plan auf exekutiven Beistand. Bis der eintraf, waren sie hoffentlich weg.

Yannick war indes aufgestanden und mühte sich damit ab, die Schaulustigen auf Abstand zu halten, was nach Ersterben der Beschallung so widrig wie eh und je war.

"Sorry, ich hab dem DJ nochmal Bescheid gesagt", erklärte der Barkeeper, der sich gerade durch die Menge zu ihnen zurückschob. Dass er verschwunden war, hatte Oliver Dreier in dem Trubel gar nicht bemerkt gehabt.

"Danke", entgegnete der Notarzt verblüfft. So viel brauchbare Mithilfe bekamen sie gerade bei solchen Szenarien nicht oft.

Der unsachliche Kommentar "Oxidiert der hier immer noch rum?" unterstrich da viel mehr das, was sie sonst so gewohnt waren. Ob der Urheber wohl Bio- oder Chemi-LK gehabt hatte? Jedenfalls schien es der Förderung von Empathie nicht dienlich gewesen zu sein.

Vor ihm kam etwas Leben in den jungen Mann am Boden, dessen Lider unruhig zitterten. Er wand sich und hob schwerfällig einen Arm, den Nick aber festhielt, bevor er irgendwohinwandern konnte.

Hinter sich konnte der Notarzt Yannick fluchen hören "Das Handy jetzt weg habe ich gesagt!".

Den Augenblick, der ein wenig Klarheit versprach, nutzte Oliver Dreier und versuchte sich noch einmal an der Ansprache seines Patienten. "Was ist los? Einmal mich angucken. Wir wollen dir nur helfen", redete er auf Jakob ein, während er mit seinen Fingerknöchel über das Brustbein des Jungen rieb, was einem Menschen im Normalzustand das Schlafen unmöglich gemacht hätte.

Dieses Mal bekamen sie überraschenderweise beinahe so etwas wie eine Antwort, wenn das Gebilde, das wie "Kmpfz" klang, auch nicht sehr aussagekräftig war und das Gewummer des Basses wie auch das Geplappert der Gäste die Kommunikation erschwerte. Im zweiten Anlauf war dagegen das "Kopf" etwas besser herauszuhören, was die verzerrten Gesichtszüge zumindest ein wenig erklärte.

"Kopfschmerzen?", hakte Nick laut und deutlich nach, erhielt aber spontan keine Antwort, sondern nur wieder ein leises, unartikuliertes Brummeln, das keinem bekannten Alphabet zugeordnet werden konnte, in Kombination mit einer schmerzverzerrten Miene.

"Wir wär'n so weit", informierte ihn Karin, dass sie den Jungen umlagern konnten.

"Gut, dann rüber, erstmal auf die Seite", murrte Dreier, mit einem kurzen Blick über die Schulter. Die Schaulustigen waren weniger geworden, aber die übrigen waren schon wieder näher gekommen und standen beinahe in ihrem Notfallrucksack, auch wenn Yannick sie immer und immer wieder zurückschob.

Dreier hielt den Kopf, Karin ging an die Beine, während Nick in den Gürtel des Patienten griff und die Arme an Ort und Stelle hielt, so dass sie die halbe Portion auf das Kommando des Notarztes auf die Liege rüberschaffen konnten.

"Kann ich noch irgendwas tun?", lenkte der Barkeeper erneut die Aufmerksamkeit auf sich, als Nick und Yannick die Trage gerade hochnahmen und das Material sortierten.

Dreier drehte sich zu ihm um. "Erstmal nicht, es sei denn, es fällt Ihnen noch irgendwas ein, was für uns wichtig wäre. Wissen Sie, ob er irgendwelche Allergien oder Vorerkrankungen hat oder ist Ihnen sonst was aufgefallen? Ist er Leistungssportler?", fragte er, als er sich auch schon wieder seinem Patienten zuwandte, noch einen Blick auf den Monitor warf, der kaum verändert immer noch dieselben mauen Werte präsentierte, und abermals die Pupillen des Jungen auf der Trage prüfte. Zuletzt schaute er zum Kellner, der bloß ratlos die Schultern heben konnte. "Okay, los raus hier", gab er seinen Leuten das Signal, den Rückzug anzutreten, worauf auch der nachdenkliche Barkeeper ihnen folgte.

"Ey, Toni, was soll das?" Der verärgerte, fast aggressive Ausruf einer fremden Stimme ließ ihre Alarmglocken schrillen.

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