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10/29/19

Auch vier Tage später hatte ich nichts anderes als diese Melodie im Kopf. Ich hatte mir das Video sofort heruntergeladen und hörte es in jeder freien Minute. So wie jetzt auf dem Nachhauseweg vom College.

Ich schloss die Wohnungstür auf und striff mir meine Schuhe von den Füßen. Natürlich war ich wieder alleine zuhause. Aber das war nicht schlimm. Ich mochte es so. Niemand störte mich oder meckerte an mir herum. Ich könnte natürlich auch ausziehen, aber dafür war es viel zu praktisch, noch bei meinen Eltern zu leben. Kaum Kosten und eine gute Lage. Wenn auch ein bisschen traurig mit 20 Jahren. Doch das war mir egal.

Ich tapste ins Wohnzimmer und setzte mich auf den Hocker vor dem Klavier. Noch ein Grund, nicht auszuziehen.
Ich hatte, im Gegensatz zu meinen Schwestern, nie richtigen Unterricht gehabt. Doch es hatte mir immer Spaß gemacht, ein bisschen herumzuklimpern. Musikalisches Talent hatte ich. Das wussten auch meine Eltern. Doch gefördert hatten sie es bei mir nie.
Was sie nicht wussten war, dass ich mit 14 Jahren einen Entschluss gefasst hatte. Ich wollte Klavier spielen können. Also hatte ich es mir selbst beigebracht. Immer, wenn ich alleine gewesen war, hatte ich mich hingesetzt und geübt. Und erstaunlicherweise ging es ziemlich schnell.

Wenn ich ausziehen würde, würde ich auch dieses Instrument verlieren. Meine Eltern bestanden fest darauf, es in ihrer Wohnung zu behalten.

Ich klappte den Deckel hoch und platzierte meinen rechten Fuß auf der rechten Pedale. Und dann begann ich, zu spielen. Meine Finger flogen über die Tasten und die Melodie schwebte durch den Raum.

Ich hatte sie auswendig gelernt. So wie viele Stücke zuvor. Ich hatte hingehört, konnte ab und zu einen Blick auf seine Hände werfen und es dann selber ausprobiert. Vielleicht hatte ich ja ein absolutes Gehör, ich weiß nicht, kann sein. Und jetzt spielte ich. Als ich abbrach, zog sich mein Herz zusammen. Es war, als hätte jemand angefangen, eine Liebeserklärung auszusprechen, doch konnte sie nie beenden, weil er mittendrin erschossen wurde. Genau so fühlte es sich an.

Enttäuscht seufzte ich. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Unter dem Beitrag hatten schon tausende Menschen kommentiert und gefragt, was ein Stück das sei, doch er hatte keinem geantwortet. Wieso sollte er dann mir antworten? Und eine Nachricht zu schreiben, hatte auch nichts gebracht.

Ich zog mein Handy heraus und ging wiedermal auf seinen Insta-Account. Eine neue Story. Ich klickte drauf und starrte gebannt auf den Bildschirm.

Europa war toll... Gestern letzte Show in London... Morgen wieder zurück in L.A...

Aufgeregt sprang ich auf. Morgen schon?
Das war doch meine Chance, oder?
Ich wollte doch nicht rüberkommen, wie ein Groupie!
Aber hatte ich eine andere Wahl?
Nicht wirklich.

Sofort rief ich Ella an. Mailbox. Egal.

"Ella, hör zu!", sagte ich aufgeregt, während ich in mein Zimmer ging und den Schrank aufriss. "Morgen kommt Why don't we wieder zurück. Ich muss nach L.A! Und der nächste Zug geht in..."
Ich warf einen Blick auf die Uhr.
"...einer dreiviertel Stunde! Den nehme ich. Keine Ahnung, wie ich das anstellen will, aber ich werde den Namen von diesem Stück herausfinden, hörst du? Ich brauche das! Mir ist es egal, as du davon hältst, oder wie verrückt das ist. Ich fahre! Wir sehen uns in einer Woche, hab dich lieb!"

Ich wusste nicht, woher diese Entschlossenheit kam, aber sie war da. Und ich würde das jetzt durchziehen.
Warum auch immer, löste diese Melodie etwas in mir aus, was ich nicht mehr missen wollte. Es waren so viele Emotionen auf einmal, die sich in mir miteinander verbanden und zu einem Strudel wurden, in dem ich ertrank.
Mir dämmerte langsam etwas, was ich gewusst hatte, als ich die Melodie zum ersten mal gehört hatte. Es war nur eine leise Ahnung, aber sie war da.
Mein Leben war nicht dazu bestimmt so ein langweiliges Fach wie Sozialwissenschaft zu studieren. Ich wollte mein Leben der Musik widmen.

~

Ich stand am Bahnhof und wartete ungeduldig. Der Zug müsste in den nächsten fünf Minuten kommen. Die Fahrt von Ventura nach Los Angeles würde knappe zwei Stunden brauchen. Genug Zeit um mir irgendwas auszudenken.

"Clara!"

Erschrocken drehte ich mich um. Eine keuchende Ella lief auf mich zu.

"Ella! Was machst du denn hier?"

Luftschnappend bleibt sie von mir stehen.
"Keine... Angst.", stößt sie hervor. "Ich will... dich nicht... aufhalten! Nur... verabschieden!"

Sie zog mich in eine feste Umarmung.
Da kam schon mein Zug und wir lösten uns widerwillig voneinander.

"Viel Glück!", rief sie mir noch zu.

"Danke, hab dich lieb!"

"Ich dich auch!"

Dann schlossen sich die Türen und der Zug setzte sich in Bewegung.

767 Wörter

mad at you | d. s.Where stories live. Discover now