Prolog

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Schatten huschten vor Carols geschlossenen Augen umher. Auf dem dunklen Grund tanzten orangefarbene Flammen auf und ab, nur um Sekunden später wieder von der Dunkelheit eingenommen zu werden. Kurz darauf wiederholte sich das Spiel. Carols Augenlider flatterten. Es war nicht so hell, wie sie erwartet hatte. Einen Moment lang glitt ihr Blick orientierungslos über den rostfarbenen Grund, der nur wenige Fuß über ihr hing. Jetzt hörte sie auch das Feuer in der Nähe knistern. Das warme Licht, das es ausstrahlte, rekelte sich an der Decke.

Die junge Frau hob den Kopf, um sich umzusehen. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre linke Schläfe. Als sie nach der Stelle tastete, spürte sie eine warme, klebrige Substanz, in der sich einige Haare verfangen hatten. Augenblicklich verwandelte sich ihre Verwirrung in Entsetzen. Und mit der Angst kam auch die Erinnerung.

Die Schläge mit dem Besen. Es hatte drei gebraucht, bis Carol das Bewusstsein verloren hatte. Den letzten hatte sie kaum noch gespürt. Wohin hatte Margaret sie gebracht? Von der plötzlichen Panik ergriffen, durchfuhr sie ein Ruck. Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle. Dann noch einer. Kreischend versuchte sie, sich aufzurichten, doch ihre Beine und ihr Rumpf waren auf dem harten Untergrund fixiert. Ihre Angst steigerte sich ins Unermessliche. Jemand hatte sie an einen Tisch gefesselt, inmitten eines Raums ohne Fenster. Hektisch suchte sie weiter die Umgebung ab. Die Decke über ihr wölbte sich und war recht niedrig. Jetzt bemerkte sie auch den muffigen Geruch, den jede Faser der Wände zu verströmen schien. Nur wenige Meter von ihr entfernt war eine Tür in den Stein eingelassen. Sie war aus dunklem Holz und besaß schmiedeeiserne Beschläge. Auf dieser Seite war der Raum komplett leer, allerdings verortete Carol das Feuer hinter sich. Vergeblich versuchte sie, sich umzudrehen, doch die Fesseln verhinderten es.

Ein langer Atemzug erklang hinter ihr. Vor Schreck setzte ihr Herz aus.

»Du bist also wach.« Carol erkannte Margarets Stimme sofort wieder.

»Lassen Sie mich frei! Sie haben kein Recht, mich hier unten festzuhalten!«, schrie sie.

»Mit dieser Annahme liegen Sie goldrichtig. Dies hier ist nicht mit dem Gesetz vereinbar«, pflichtete Margaret ihr bei. »Aber wissen Sie, was? Es ist mir gleich. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Mein Kind hat er dem Hungertod überlassen, mein Leben der Einsamkeit. Es wird Zeit, dass ihr die Einsamkeit kennenlernt, mit all ihren Tücken und Qualen. Ich will, dass sie mit ihren schwarzen, kalten Klauen nach deinem Herzen greift und es gefangen hält, wie sie es bei mir tut. Ich will, dass du am eigenen Leib erfährst, wie es sich anfühlt, keine Wahl zu haben. Wie die Liebe zu Hass verblasst.«

Carol kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Du bist doch nur eifersüchtig, weil er mich dir vorgezogen hat.«

»Das mag sein. Trotzdem wirst du diejenige sein, die seine Fehler ausbaden muss. Dabei ist es nicht nur er, der sich etwas zuschulden kommen lassen hat. Du wusstest, dass es mich gibt. Du hast mich gesehen, an dem Abend, an dem er mich verlassen hat. Du hast meinen schwangeren Bauch gesehen. Und du hast nichts unternommen. Dafür wirst du bezahlen.«

Carols Stimme zitterte vor Wut, außerdem ergriff zunehmend die Panik Besitz von ihr. »Was haben Sie vor?«, flüsterte sie.

Die Frau stieß ein keckerndes Lachen aus, das nicht annähernd ihrem noch recht jungen Alter entsprach. Carol kam nicht umhin, sie näher zu mustern, während Margaret zu ihr an den Tisch trat. Sie war eine hübsche Frau, ihre Gesichtszüge waren fein, die Wangenknochen hoch. Aber das ungepflegte Auftreten schien alles wieder zunichte zu machen und verschluckte ihre Schönheit wie Nebel das Licht. Ihr blondes verfilztes Haar war zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst, unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, und auf ihrer Haut klebten Staub und Schmutz. Ihre Gestalt warf lange, im Licht des Feuers zitternde Schatten an die Wände, wie um ihre große und schlanke, ja fast spinnenartige Figur zu unterstreichen. Bevor das Leben sie gezeichnet hatte, musste sie ein Blickfang gewesen sein.

»Ich werde dich mit einem Fluch belegen«, verkündete sie. Trotz ihres krächzenden Lachens und des heruntergekommenen Aussehes, konnte Carol beim besten Willen nicht die Hexe erkennen, die Margaret tief in ihrem Herzen war. Ihre Art glich vielmehr der einer strengen Lehrerin oder einer unbarmherzigen Aufseherin in einem der vielen heruntergekommenen Waisenhäuser.

»Ein Fluch? Wie meinen Sie das?« Carols Augen weiteten sich vor Schreck. Margaret quittierte ihre ängstliche Reaktion mit einem Grinsen und entblößte dabei eine Reihe makelloser Zähne. Sie war die erste Hexe, die Carol jemals untergekommen war und keinem Märchenbuch entsprang.

Die junge Frau zerrte noch einmal verzweifelt an ihren Fesseln, doch die Seile waren so oft und so stark um den Tisch gebunden worden, dass kein Entkommen möglich war. »Was genau haben Sie vor?«

Margaret wandte sich von ihr ab und verschwand hinter ihr. Carol hörte sie mit Töpfen hantieren. »Wo bliebe denn die Spannung, wenn ich dich gleich in meine Pläne einweihen würde?« Ihre Stimme kam langsam näher; schließlich trat sie wieder in das Blickfeld ihres Opfers. In der Hand hielt sie drei Messer. Die Augen zu Schlitzen verengt, wog sie die Waffen in ihren Händen, während sie Carol eingehend betrachtete. Die junge Frau wagte nicht zu atmen. Nach kurzem Überlegen legte Margaret die beiden größten Messer neben sie auf den Tisch und behielt das kleinste Exemplar in den Händen.

»Keine Sorge, ich werde dich nicht töten. Das wäre viel zu einfach. Viel zu ... leicht für dich«, fuhr sie fort. »Ich werde dich auch nicht foltern. Ich will nicht, dass du körperliche Schmerzen hast. Was ich will, ist, dass du seelische Qualen erleidest. Ich will, dass du fühlst, was ich fühle. Und ich will, dass die Menschheit sieht, was der Egoismus ihnen einbringt. Dass sie sich letztlich selbst zerstören.«

Ohne Vorwarnung legte sie die kühle Klinge an Carols rechtes Handgelenk, etwas oberhalb des Pulses. Die junge Frau sog scharf die Luft ein, als der Druck sich binnen kurzer Zeit verstärkte. Als das Messer ihre Haut durchschnitt, konnte sie nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Schmerz explodierte in ihrem Arm und setzte alle anderen Empfindungen für einen Moment außer Kraft; das Blut, das warm und dick an ihrem Handgelenk hinabrann, spürte sie gar nicht. Gegen ihren Willen purzelte ein Stöhnen über ihre Lippen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

Margaret kommentierte ihre Reaktion mit einem abfälligen Schnauben und verschwand hinter ihr. Als sie wiederkam, hielt sie ein rundes Gefäß in den Händen. Unter Carols Protest hob sie unsanft ihren verletzten Arm an und ließ das Blut in die Schale tropfen, ehe sie sich wieder entfernte. Abermals erklang metallisches Klappern, dann wurde es still. Ein weiteres Feuer wurde entfacht. Das Blut sickerte weiter aus ihren Adern. Weiter und weiter. Unter Carols Arm hatte sich mit Sicherheit schon eine ganze Lache gebildet, doch sie war zu schwach, um sich aufzurichten und nachzusehen. Mit dem Blut schwand auch zusehends die Kraft aus ihrem Körper. Die Geräusche drangen nur noch gedämpft an ihr Bewusstsein. Kleppern, Rühren, Plätschern. Dann gemurmelte Worte. Immer und immer wieder dieselben Phrasen. Zischende Laute, aus denen alles Menschliche gewichen war. Carols Lider wurden schwer wie Blei. Dabei musste sie wach bleiben. Sie durfte nicht zulassen, dass Margaret... Sie musste irgendwie...

»Fertig.« Carol hörte die Worte der Hexe kaum noch. Wie durch einen Schleier sah sie, wie Margaret sich erneut an ihrem Arm zu schaffen machte. Sie säuberte ihre Wunde, doch anstatt sie zu verbinden, griff sie nach der Schale mit dem Blut. Ein eigentümlicher Geruch, den Carol nicht so recht deuten konnte, stieg ihr in die Nase.

Die Hexe muss etwas an dem Blut verändert haben, schoss es ihr durch den Kopf. Im nächsten Moment jedoch hatte sie den Gedanken schon wieder vergessen. Margaret kippte das Gefäß, sodass das Blut langsam hinauslaufen konnte. Es traf direkt auf die Wunde und lief an Carols Arm hinab. Eine Welle von Schmerz wog über ihren Körper, als wehrte sich jede Zelle und jede Faser mit allen Mitteln gegen den Fremdkörper. Sie zuckte und riss den Mund zu einem Schrei auf, doch kein Laut wollte ihren Lippen entweichen. Im nächsten Moment waren die Schmerzen verschwunden, ebenso schnell, wie sie gekommen waren, und die Schwärze zog Carol mit sich in die Tiefe.

The Curse - Das Spiel um Hass und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt