Eins

40 9 52
                                    

Es gab viele Wege, neu anzufangen. Einige führten auf eine Reise über den gesamten Erdball. Sie befreiten den Geist, die Psyche; sollten einem ein Gefühl der Unabhängigkeit verleihen. Endlose, verlassene Highways in Amerika, eine Safari durch die Wildparks Afrikas, sternklare Nächte im Outback Australiens oder auch die Lichter von Paris in der Abenddämmerung. Andere schworen auf Kontaktabbruch. Von den Menschen, die ihnen nicht guttaten. Besitzergreifende Partner verlassen, falschen Freunden den Rücken zukehren.

Ich war niemand von diesen Typen. Ich war irgendwo zwischen ihnen. Wie immer. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Weder hatte ich eine Weltreise geplant, noch all meine Kontakte auf meinem Handy gelöscht, um meine Vergangenheit hinter mir zu lassen. Den Umständen hatte ich zu verdanken, dass nichts davon möglich war. Freunde hatte ich längst nicht mehr und meine Familie hatte nichts mit meinen Problemen zu tun. Es gab niemanden, den ich loslassen konnte. Und auch eine Weltumseglung fiel mit meinen siebzehn Jahren wohl ins Wasser.

Eine andere Lösung musste her. Sie hieß Chloe und war meine fünfundzwanzigjährige Cousine, die in einer Kleinstadt im Norden Englands wohnte. Auf die Empfehlung meiner Therapeutin hin sollte ich für einige Monate in einer mir einigermaßen fremden Umgebung leben, neue Erfahrungen machen, jedoch ohne Überforderung und stets in der Nähe meiner Verwandten, um nicht vollkommen allein zu sein.

Ich fand es fast schon amüsant, zu beobachten, wie die Menschen sich veränderten, sobald sie von meiner Diagnose erfuhren. Wie sie Panik bekamen. Jedes meiner Worte genau unter die Lupe nahmen. Hinter jedem meiner Blicke einen Suizidgedanken vermuteten. Nein, es war nicht amüsant, es war lächerlich. Einfach lächerlich. Als würde ich versuchen, mich vor Chloes Augen umzubringen. Ich hatte die Sorge und die Angst in ihrem Gesicht gesehen – jemand musste sie ihr mit dickem, schwarzem Marker auf die Stirn geschrieben haben – , als sie das Schweizer Taschenmesser aus dem Fach in der Mittelkonsole genommen und im Kofferraum unter dem Ersatzreifen deponiert hatte, bevor ich heute Mittag ins Auto gestiegen war. Ich hatte die Blicke gesehen, die sie mit Mum gewechselt hatte. Und mir entging ebenfalls nicht, wie die Mittzwanzigerin mich von Zeit zu Zeit misstrauisch von der Seite musterte, als glaubte sie, ich könnte jeden Moment die Tür öffnen, hinausspringen und mich vor das nächste Auto werfen.

Dabei waren diese Zeiten längst vorbei.

Chloe war eine dieser Menschen, die nicht wussten, wie man mit psychisch verkorksten Teenagern umging. Und das war okay. Das war es wirklich. Aber es machte sie und ihre ganze Art unnatürlich und steif. Immer wieder versuchte sie krampfhaft ein Gespräch in Gange zu setzen. Und obgleich ich heute zumindest ein klein wenig zu Smalltalk aufgelegt war, scheiterte jede unserer Konversationen kläglich. Meistens endeten sie in einem einfallslosen »Hm« oder »Ah«. Diese noch so kleinen und unschuldigen Wörtchen waren der Tod jeden Gesprächs.

Irgendwann schaltete Chloe, der die Stille unangenehm zu werden schien, das Radio an und begann, mit den Fingern im Takt eines alten Pop Songs auf das Lenkrad zu trommeln. Meine Cousine war wirklich in Ordnung, auch wenn wir uns nicht viel zu erzählen hatten. Dafür fehlten uns einfach die gemeinsamen Interessen. Und auch äußerlich ähnelten wir uns nicht wirklich. Ihr dunkelblondes glattes Haar unterschied sich zumindest in der Farbe stark von meinem eigenen dunkelbraunen. Auch mit meiner Kleidungswahl fühlte ich mich in ihrem Auto ein wenig Fehl am Platz. Während Chloe zu einer Mom-Jeans und einem weißen T-Shirt gegriffen hatte, hielt ich mich lieber auf der schwarzen Seite. Es ging doch nichts über Unauffälligkeit.

Nachdem wir uns eine halbe Stunde lang angeschwiegen hatten, hielt ich es nicht mehr für unhöflich, mein Handy aus der Tasche zu holen. Ich musste einige Dinge erledigen, bevor ich neu anfing. Die ganzen letzten Wochen hatte ich mich davor gescheut, mein Handy in Angriff zu nehmen, aus Angst davor, was all die Bilder, Kontakte und alten Chats mit mir anstellen würden. Doch jetzt führte kein Weg mehr daran vorbei.

The Curse - Das Spiel um Hass und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt