17 Sokovia

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Wir fliegen Stundenlang. 
Irgendwann werde ich sogar vom Zeichnen müde und tippe Natasha an. 
Sie hat ihre Augen die ganze Zeit aufmerksam auf den Himmel gerichtet und beobachtet gleichzeitig die Geräten, von denen ich keine Ahnung habe, was sie bedeuten. 

"Hm?" sie schaut mich kurz an. 
"Ich versuche ein bisschen zu schlafen, ja?" teile ich ihr mit, während ich es mir schon auf dem Sitz gemütlich mache.
"Klar" sie nickt. "Ich schalte gleich auch den Autopiloten ein. Aber noch bin ich nicht müde genug. Dann hab ich wenigstens noch eine Beschäftigung" 
Ich höre ihr nur noch mit halbem Ohr zu und schließlich schließe ich die Augen und schlafe schnell ein.


"Wanda?" jemand tippt mir vorsichtig an die Schulter. "Wanda bist du wach?" 
Ich fahre hoch. 
"Hey" Natasha legt mir beruhigend ihre Hand auf die Wange. "Ist ja alles gut. Ich bin da" 
Ich kann spüren wie ich zittere, aber mein Körper erholt sich langsam. Verflucht seien diese Träume. 
Ich sehe wie besorgt Nat schaut und versuche meinen Atmen zu kontrollieren. 
"Ich habe dich schreien hören" sie kniet vor mir auf dem Boden. "Geht es dir gut?" 
"J-Ja, es war bloß ein Traum" ich lege den Kopf in den Nacken. "Mach dir keine Gedanken" 
"Ich wollte eigentlich nur, dass du das siehst" sie nimmt auf ihrem Sitz platz und schaltet den Autopiloten aus. 

Ich merke, wie der Quinjet langsam an Höhe abnimmt und wir schließlich zwischen den Wolken herfliegen. 
Der blaue Himmel färbt sich vor meinen Augen Orange und als wir die Wolkendecke durchbrechen, scheint die Sonne mir ins Gesicht und wärmt meine Wangen. 
"Der Sonnenaufgang ist wunderschön" raunt Tasha. 
"Ja" ich nicke.
Es gibt nur einen Ort, an dem die Sonnenaufgänge so schön sind...
Und als Natasha eine scharfe Kurve fliegt sehe ich ihn. Mein Zuhause. Meine Heimant. Den Ort, an dem all das angefangen hat: Sokovia. 

Hier sind es die Berge am Horizont und der immer wolkige Himmel, der die Morgen so besonders macht. 
Unter uns fliegen die Wälder nur so vorbei und schließlich überqueren wir das, was einmal meine Stadt war. 
Seit dem Absturz steht nicht ein Haus mehr. Es sind praktisch nur noch große und kleine Steinbrocken, die darauf hinweisen, dass es einmal eine Stadt war. 
Wir sind tief genug, dass wir Gestalten sehen können, die durch die Ruinen huschen. 
Manche von ihnen deuten mit dem Finger auf den Quinjet und eine kleine Gruppe an Kindern versucht eine Weile hinter uns herzulaufen. 
"Das war mal dein Zuhause?" Natasha klingt begeistert.
"Nicht wirklich besonders" meine ich. 
"Und ob" widerspricht sie, ihre Augen fliegen über den Ort und schauen sich alles fasziniert an. 
"Es ist...wunderschön. Die Tatsache, dass all diese Menschen geblieben sind. Dass sie noch immer hier sind und versuchen das wieder aufzubauen. Es ist wunderschön" 
Tasha lächelt.
"Lass uns einen Platz zum landen suchen und dann zeigst du mir Sokovia, ja? Ich will das alles sehen!" 
Jetzt wirkt sie richtig aufgeregt. Tasha steckt mich mit ihrer Aufregung sogar an. Ich kenne diesen Ort, ich kenne die Leute und die Leute kennen mich! 
Vielleicht werde ich Menschen treffen, die ich Jahre lang nicht gesehen habe. 
"Das werde ich machen!" nicke ich und grinse breit. 

Sie landet den Jet ein paar wenige Kilometer entfernt von der Stadt selbst, in einem abgelegenen Waldgebiet. 
Hier wird ihn niemand finden und wir haben einen Ort an dem wir uns im Notfall verstecken können. 

Schon als ich aussteige ist alles so vertraut.  
Die Blätter, die Erde und die Steine knirschen bei jedem Schritt den man macht und es riecht nach Zuhause. 
Dazu zwitschern die Vögel in den Bäumen und die Sonne fällt in kleinen Mustern auf den Waldboden. 
Ich gehe einige Schritte, bevor ich mich zu Natasha umdrehe. 
Sie steht vorm Quinjet, hat den Kopf in den Nacken gelegt und blickt in den Himmel. 
"Alles okay?" frage ich und sie nickt lächelnd. 
"Es ist wunderschön hier Wands'. So ruhig und friedlich" 
"Das ist Sokovia" antworte ich und erinnere mich an die Zeit, in der ich mit Pietro und meinem Vater Wildtiere beobachtet habe. 
Es hat manchmal sogar Stunden gedauert, die wir damit verbracht haben, regungslos auf der Erde zu hocken um darauf zu warten dass ein Reh oder sowas auftaucht. 
Aber immer wenn wir eins gesehen haben, habe ich mich unendlich gefreut und musste mich zusammenreißen um nicht vor lauter Freude zu quietschen. 

"Na komm!" rufe ich ihr zu. "Ich dachte, du wolltest Sokovia sehen" 
Sie kommt hinter mir her gesprungen wie ein kleines Kind und ich schaue sie von der Seite an. 
"Was denkst du von einem Wettrennen?"
Eine weitere Sache, die ich immer mit Pietro gemacht habe, als wir noch Kinder waren. Jedesmal, wenn wir zum spielen in die Wälder durften, sind wir um die Wette gelaufen.
Damals habe ich noch gegen ihn gewonnen. Ich war einfach besser darinnen über die lockere Erde zu laufen und über Baumstämme und Wurzeln zu springen. 

"Ein Wettrennen?" Nat zieht eine braue hoch. "Ist das nicht für Kinder?" 
Ich zucke mit den Achseln. "Es sieht uns ja niemand dabei" 
Einen Moment steht sie einfach nur da und grübelt über die Idee nach. Dann läuft sie ohne Vorwarnung los und lacht laut, als ich beginne zu fluchen. 
"So schnell nicht Romanoff" 
Ich folge ihr durch das Dickicht,  springe über einen Baumstamm und hole schnell auf.
Meine roten Haare wehen hinter mir her und ich breite die Arme aus, während ein leichter Wind meine Wangen kühlt. 
So fühlt es sich an, frei zu sein. 

In diesem Moment kann ich nicht anders, als laut zu kreischen. Nicht etwa aus Angst. 
Sondern wegen der puren Euphorie, die durch meine Adern fließt. 
Seit Jahren bin ich das erste Mal wieder frei. Völlig ohne Fesseln, ohne Menschen die mich zurückhalten. 
Es ist fast so, als könnte ich Pietro aus dem Augenwinkel sehen, der mit mir läuft und mir angeberisch die Zunge rausstreckt als er mich überholt. 

Ich bin auf der selben höhe wie Natasha und sie schaut zu mir herüber.
Ich grinse ihr breit zu und sie erwidert es mit einen breiten Lächeln. 
Dann fällt auch sie in mein Freudenkreischen ein und wir laufen einfach nebeneinander her und schreien uns die Seelen aus dem Leib. 

Schließlich bleibt sie zu erst stehen und ich halte kurz darauf auch an. 
Meine Lungen brennen und meine Beine tun weh. Und doch fühle ich mich unfassbar gut. 
"Willkommen in der Freiheit" keuche ich. 
Natasha nickt heftig und lacht etwas außer Atem, während sie ihre Hände gegen die Oberschenkel stützt und den Oberkörper nach unten gebeugt hat.
"Wenn es so immer ist, dann will ich hier bleiben" stellt sich klar. 

"So ist es fast nie" lache ich. "So war es schon viel zu lange nicht mehr"


wanda II back for youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt