Maxime blickte sich in der schmalen Gasse um. Die Luft war rein und niemand schien sich für diese Rückseite des Hotels zu interessieren. Lediglich ein paar Lieferwagen für den Wäscheservice standen bereit und zwischen den Müllcontainern fauchten ein paar Katzen, die sich um die besten Brocken stritten. Der Profi-Dieb grinste, denn genau damit hatte er gerechnet. So etwas war typisch für Paris. Nach vorn hin prachtvolle Fassade und reichlich Tamtam, und nach hinten hin schenkte man dem Ganzen keine Beachtung mehr. Nun ja, zugegebenermaßen wäre es auch nicht jedem X-beliebigen möglich, so einen Coup durchzuziehen. Nicht umsonst war Maxime in gewissen Kreisen als le Lynx, der Luchs bekannt. Er konnte klettern und war dabei so lautlos wie eine dieser Katzen. Und nicht weniger elegant als eine solche machte er sich nun an sein Werk. Erst zog er sich die Kapuze seines schwarzen Hoodies über den Kopf, sodass ihn sein hellblondes Haar nicht im Dunkeln verraten konnte, dann prüfte er die Rutschfestigkeit seiner Sneakers an der Hauswand. Alles war perfekt.
Mühelos kletterte er am Abflusslauf der Dachrinne hinauf, wobei er sich mit den Armen Stück für Stück am Rohr hochzog. Mit den Füßen konnte er sich rechts und links an der Wand abstützen, so hatte er in kürzester Zeit das Dach des Gebäudes erreicht. Hier setzte er sich für einen Augenblick, um die Aussicht zu genießen und einen Schluck seines Energy-Drinks zu nehmen, den er zusammen mit seinem Werkzeug in einem kleinen Backpack mit sich führte. Er holte genießerisch Luft und blickte über die Lichter der Großstadt bis zum Eiffelturm, der sich des nachts in glitzernder Pracht von tausenden, blitzenden Glühbirnchen zeigte. Unter ihm, in einer der noblen Suiten, lag sein Opfer gewiss schon in tiefem Schlaf und ahnte nichts Böses.
Tatsächlich war es nicht so.
Der russische junge Mann, dem es etwas abzuluchsen galt, schlief keineswegs. Er stand barfuß und nur mit einem sündhaft teuren Morgenmantel bekleidet auf dem Balkon an der Vorderseite des Hotels und trank seinen dritten Wodka. Den hatte er sich verdient. Die Auktion im Hotel Drouot am Nachmittag war für ihn durchaus nervenaufreibend gewesen. Dabei hatte Geld überhaupt keine Rolle gespielt. Wenn es nur darum ging, dann war seine Familie noch immer eine der reichsten, und seine Großtante, die Großherzogin Romanowa hatte deutlich gemacht, dass er auf gar keinen Fall ohne die wiedergefundenen Fabergé Eier nach Madrid zurückkehren sollte. Was ihn Nerven gekostet hatte, war das Wetteifern der Gebote gegen den Handlanger irgendeines französischen, neureichen Idioten. Nicht auszudenken, wenn Kyrill ihm das Lilien-Ei und das Maiglöckchen-Ei hätte überlassen müssen! Und gut, dass er selbst diesen Ehrendienst für seine Großtante übernommen hatte. Ein Angestellter hätte womöglich nicht so rücksichtslos geboten.
Seufzend drehte sich Kyrill zum Zimmer, wo er die beiden Kostbarkeiten nebeneinander auf dem Nachtschrank abgestellt hatte. Später würde er sie in den Safe zurücklegen, doch noch wollte er sie betrachten. Was sie so einzigartig machte, war nicht die Kunstfertigkeit des Juweliers allein, sondern vielmehr der ideelle Wert, den sie für seine Familie besaßen. Sie waren noch immer die verfluchten Romanows, diese Dinge gehörten ihnen und niemand könnte sie ihnen vorenthalten! Sie waren Zeugen einer längst vergangenen Zeit, doch das Funkeln der Edelsteine und die filigrane Goldschmiedekunst würden überdauern.
„Eigentlich seid ihr viel zu protzig für meinen Geschmack", ließ Kyrill die beiden Eier wissen. Dann toastete er ihnen zu, nahm den letzten Schluck und ging ins Bad. Auf die Idee, oben im sechsten Stock die Balkontür zu schließen, kam er nicht.
Maxime hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ihm praktisch freier Zutritt gewährt wurde. Es war beinahe enttäuschend. Für einen Augenblick fragte er sich, ob es möglicherweise eine Falle war. Und wenn schon. So schnell wie er über Dach und Fassade auf den Balkon gelangt war, könnte er auch wieder verschwinden. Was der Sache trotzdem einen Kick gab, war der Umstand, dass die Suite noch schwach erleuchtet war und der Russe offenkundig nicht schlief: Die Tür zum Bad stand einen Spalt breit offen und das Geräusch von prasselndem Duschwasser und ein heller Lichtstrahl drangen hindurch. Der Typ musste vollkommen ahnungslos sein, denn er sang unter der Dusche von irgendeiner Katjuscha und die Fabergè Eier standen so mir nichts, dir nichts auf dem Nachtschrank. Es war wirklich ein Kinderspiel. Kopfschüttelnd trat Maxime ein und näherte sich den begehrten Objekten. Sie glänzten und funkelten, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund übte der Türspalt zum Bad eine noch größere Anziehungskraft auf den jungen Dieb aus. Wie sah der Mann wohl aus, dieser Nachfahre russischer Zaren, der seinen Auftraggeber so schamlos überboten hatte?

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Black Velvet
Short StoryHinter dem schwarzen Samt verbergen sich erotische Kurzgeschichten, die in der "Mitternachts-Challenge" auf Belletristica entstehen. Sie sind inspiriert von einem sexy Bilder-Prompt, zu dem dann meine Fantasie ihren Lauf nimmt. Meist dreht sich dabe...