Winfrid konnte ein Gähnen nicht verhindern. Bereits seit dem späten Vormittag stand er auf der zugigen Wehranlage des Burghofes und zeigte - wie es die Söhne des Herzogs von Norderfeste untereinander nannten - Wappen. Eine gleichermaßen langweilige wie überflüssige Aufgabe, auf die ihr Vater jedoch bestand. Immer wenn eine größere Gruppe von Händlern oder anderen Durchreisenden kam, zeigten die Wachen Präsenz, sorgten für Ordnung und gingen gegebenenfalls auch zur Hand, wenn Ware abgeladen wurde oder neuer Proviant aufgeladen. Die Männer des Herzogs trugen jedoch, anders als seine Söhne, keine mit Silberfäden durchzogenen Stickereien und das Einhorn in ihren schlichteren Wappen, wirkte mehr wie ein aufsteigender Ziegenbock. Winfrid trat von einem Bein auf das andere, rasselte ein wenig mit dem Schwert an seiner Seite, blinzelte gegen die Mittagssonne und strich sich eine widerspenstige blonde Strähne aus dem Gesicht.
Ein weiteres Mal ließ er seinen Blick über das Getümmel im Hof schweifen, da bemerkte er es: Ronan stand nicht auf seinem Posten. Hatte er nicht eben noch auf der gegenüberliegenden Seite an der Mauer gelehnt und die Pfeile in seinem Köcher nach Farbe der Federn sortiert? Der Ritter spähte hinunter zu den Händlern und ihren Karren, doch da war alles ruhig und nirgendwo fand er dort den rabenschwarzen Lockenkopf seines Gefährten. Das war höchst seltsam. Ronan würde nicht einfach so seine Pflicht vernachlässigen oder dem Blonden die lästige Aufgabe allein überlassen. Unruhe stieg in dem Ritter auf. Da stimmte etwas nicht. Gewiss war genug Wappen gezeigt, also machte er sich auf die Suche nach seinem Liebsten.
Er war nicht in der Wachstube des Turms, wo es immer etwas zum Essen oder Trinken gab. Auf dem Weg zu ihrem Gemach kam Winfrid an der Hexenküche seines Bruders vorbei und lugte hinein, doch dort hing nur Godwin über einem Buch und es stank gewaltig aus einem seiner Kessel. Endlich erreichte der Ritter die Tür zu dem kleinen Reich, das er mit Ronan bewohnte. Sie war nie verschlossen und knarzte laut, als Winfrid eintrat.
„Ronan?"
Keine Antwort, doch er musste hier sein, denn ein kühler Windzug verriet, dass der Zugang zum Balkon über dem See offenstand. Als nächstes entdeckte Winfrid Bogen und Köcher am Boden. Neugierig, wie er ihn vorfinden würde, trat der Blonde nun hinaus, wo Ronan tatsächlich an der Brüstung stand. Er starrte gedankenverloren auf das Wasser, reagierte dann aber auf die sich nähernden Schritte. Hatte er Tränen in den Augen? Der Ritter schluckte. So hatte er seinen Liebsten nicht gesehen, seit sie zusammen auf der Burg lebten. Ronan war blass, er wirkte verschreckt, irgendetwas hatte ihn vollkommen aus der Fassung gebracht. Trotzdem lächelte er, als er Winfrid erkannte.
„Bei allen Göttern, Ronan, was hast du?"
Obwohl er aufgewühlt war, sprach Winfrid in einem sanften, beruhigenden Tonfall und schloss seinen Liebsten sogleich in die Arme. Er fühlte sich kalt an. Wie lange hatte er schon hier gestanden?
„Nichts", brachte der Lockenkopf hervor und als er merkte, dass dies seinem Ritter nicht genügte, setzt er noch hinzu, dass es gleich wieder gut sei. Winfrid fuhr ihm mit einer Hand übers Haar, so wie man ein Kind tröstet, dann küsste er ihm die Stirn und schaute ihn liebevoll prüfend an.
„Du kannst mir nichts verheimlichen, mein Rabe", flüsterte der Blonde. „Wer hat dir wehgetan? Wen soll ich töten?"
Ronan horchte auf. Es war seinem Gefährten ernst, das wusste der Lockenkopf und liebte ihn gerade deswegen so sehr: Winfrid war einfühlsam, kannte sein Innerstes und würde für ihn vor nichts zurückschrecken. Aber es war kein guter Tag zum Töten.
„Wenn du jeden abschlachten willst, der mir wehgetan hat, dann vergeudest du unsere Zeit."
„Lieber damit als mit den Aufgaben hier. Wir könnten das ganze verfluchte Nest am Berg niederbrennen ..."

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Black Velvet
Historia CortaHinter dem schwarzen Samt verbergen sich erotische Kurzgeschichten, die in der "Mitternachts-Challenge" auf Belletristica entstehen. Sie sind inspiriert von einem sexy Bilder-Prompt, zu dem dann meine Fantasie ihren Lauf nimmt. Meist dreht sich dabe...