Prolog

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Die Landschaft war nebelverhangen. Der beinahe pechschwarze Boden wirbelte bei jedem ihrer Schritte Staub auf. Kahle, verdorrte Baumskelette ragten wie schauerliche Mahnmale in den tristen, grauen Himmel empor. Doch sie nahm all das kaum noch wahr. Zu viel Zeit war schon verronnen, in der sie nichts als diese scheinbar endlose Einöde gesehen hatte. Wenn man die unheimlichen Baumskelette, den schwarzen Boden und den immerwährenden Nebel jeden Tag sah, dann wurde man irgendwann blind dafür. Sie fragte sich, warum sie sich vor so langer Zeit freiwillig dafür entschieden hatte, ohne Wiederkehr dieses Reich zu betreten. Natürlich hatte sie hier eine Auftrag, eine Funktion, die sie zu erfüllen hatte. Nichtsdestotrotz stimmte einen dieses endlose Nichts nicht gerade fröhlich. Zu gerne würde sie wieder die Farbenpracht der Welt der Lebenden sehen. Das tiefe Blau des Ozeans, nur durchbrochen von anmutig auf den Wellen balancierenden, weißen Schaumkronen. Das helle, satte Grün der sonnenbeschienenen Wiesen. Das dunkle Rot der untergehenden Sonne. Das Gelb von wunderschön blühenden Sonnenblumen. Das dunkle Grün des Waldes, die wogenden Blätter der Bäume. Wie sehr sie echte Bäume vermisste. Doch das einzige, was ihr in der Hinsicht gewährt wurde, waren diese Baumskelette, eine dunkle, schaurige Perversion echter Bäume. Die einzige Farbkleckse in dieser schwarzen Wüste waren rosafarbene Blüten, die manchmal unter den Bäumen wuchsen. Als versuchte die Welt der Lebenden, etwas von ihrer farbenfrohen Lebendigkeit in dieses Nichts zu bringen.

Aber nun riss sie sich von ihren schwärmerischen Gedanken los. Sie musste etwas erledigen. Schnell lief sie los, ihre Pfoten flogen nur so über den Boden. Doch ihr war klar, dass das reine Energieverschwendung war. Wenn sie ohne Ziel losrannte, würde sie nichts erreichen. Diese Welt war riesig. So groß, dass tausende von Menschen in ihr Platz fanden, ohne dass sie sich über den Weg liefen. All diese verlorenen Seelen, die zwischen Leben und Tod verlorengingen, waren hier zu ewiger Einsamkeit verdammt. Aber sie hatte ihnen gegenüber einen entscheidenden Vorteil. Sie war keiner dieser verlorenen Geister. Es war ihr Auftrag, als Mittlerin zwischen der Welt der Toten und der Lebenden, Botschaften der Toten an die Lebenden zu übermitteln. Jemanden in seinen Träumen hierher zu holen, um ihm etwas mitzuteilen, war einfach. Auch die Grenze zwischen dieser Welt und der Welt der Toten zu überschreiten war einfach, wenn man ihren Standort erst einmal kannte. Doch jemanden hier zu finden war beinahe unmöglich. Dennoch musste sie es versuchen.

Wenn sie es nicht schaffte, konnte das weitreichende Konsequenzen haben. Normalerweise war jemand, sobald er hier war, auf Nimmerwiedersehen verloren. Aber der, den sie suchte, hätte nicht hierherkommen dürfen. Die Toten hatten sein Schicksal gesehen, sie kannten seine Rolle in dem großen Ganzen. Es war nicht sein Schicksal gewesen, in jener Nacht zu sterben. Durch den Schleier, der die Welten voneinander trennte, hatte sie mit Entsetzen mitangesehen, was passiert war. Sein Körper war zwar geheilt worden, doch sein Geist war zu dem Zeitpunkt schon von dieser Welt gegangen gewesen. Nun war es nur eine Frage der Zeit, bis sein Körper ohne die Essenz seiner Existenz schwächer wurde und schließlich verging. Dann war sein Schicksal besiegelt und die Zukunft würde einen fatalen Lauf nehmen.

Deshalb suchte sie verbissen weiter. Die Zeit drängte und alles hing davon ab, ob er wiederkehren würde. Und dazu musste er einen Auftrag erfüllen. Die Toten hatten es ihr mittgeteilt und auf ihr Wissen war Verlass. Sie waren nicht mehr von ihrem menschlichen Verstand beschränkt und konnten sie die Geheimnisse des Universums erfassen. Natürlich gab es auch welche, die sich vehement weigerten, ihren Glauben an das, was möglich war und was eben nicht, aufzugeben. Oder auch Schuld verhinderte, sich zu seinem höheren Selbst entfalten zu können. Aber die, die bereits ihr höheres Selbst erlangt hatten, waren zu wahrhaft Erstaunlichem fähig.

Was auch der Grund war, warum sie ihre Mission so beharrlich verfolgte. Auch wenn die Zukunft oft überraschende, unvorhersehbare Wendungen nahm, so tat sie alles, dass sie ihren vorbestimmten Lauf nehmen konnte. Doch mit jeder Stunde, die sie weiter erfolglos durch die Einöde irrte, nahm ihre Hoffnung und ihre Zuversicht ab. Der, den sie suchte, konnte überall sein. Die Chance, dass sie ihn tatsächlich fand, standen schlecht.

Plötzlich nahm sie im Augenwinkel eine Bewegung war. Abrupt fuhr sie herum und blickte sich um. Durch den Nebel konnte sie einen menschengroßen, undeutlichen Schemen erkennen, der genauso ziellos wie sie umherirrte. Mit großen Sprüngen lief sie auf die Gestalt zu. Die Erleichterung ließ ihr eine ganze Felslawine vom Herzen fallen, als die Gestalt deutlicher wurde. Diese dunkelbraunen, leicht gelockten Haare, die sturmgrauen Augen, die im Gegensatz zu dem trüben Nebel voller Lebendigkeit strahlten. Sie hatte ihn gefunden! Man erkannte, dass er noch nicht lange hier war. Wo die anderen, die sie gesehen hatte, verwahrloste und staubige Haare und leere Augen hatten, sowie einer Art Katatonie verfallen waren, waren seine Haare glänzend, seine Augen funkelten ängstlich und in seine Züge waren Verwirrung und Furcht geschrieben. Seine Emotionen waren zwar nicht positiv, aber im Gegensatz zu den meisten anderen fühlte er noch etwas. Im Gegensatz zu ihr, mit ihren dumpfen, beinahe vergessenen Gefühlen.

Es dauerte kurz, bis er sie entdeckte. Er sah unendlich erleichtert aus, als er sie sah. Mit großen Schritten kam er auf sie zu. Dann legte er den Kopf schief. „Bist du Tsukiko?", fragte er, mit Neugier und einer Spur Misstrauen in der Stimme. Sie nickte stumm. Er schien kurz zu überlegen, dann hakte er nach: „Wo bin ich?" Sie ließ sich Zeit, ehe sie antwortete: „Willkommen im Meido, Takashi. Dem Reich zwischen Leben und Tod."

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Sooo, jetzt beginnt der zweite Teil der Trilogie. Ich freue mich auf ein weiteres, spannendes Schreiberlebnis mit euch! 




Die letzte Prüfung [wird neu geschrieben]Where stories live. Discover now