16. Verabschiedung

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„Ich weiß, dass es derzeit unsere einzige Chance ist, aber bist du sicher, dass wir das wirklich machen sollten?", fragte Okame nun zum fünften Mal. „Soll ich dir jetzt auch noch aufschreiben, dass ich weiß, dass es riskant und gefährlich ist, aber wie du gerade gesagt hast, unsere einzige Chance ist?", entgegnete ich gereizt, während ich gleichzeitig versuchte, die Illusion meiner Mutter nicht aus den Augen zu verlieren, die mit leichten, eleganten Schritten fast schon durch das Dickicht zu schweben schien. Nur eine Illusion zu sein brachte auch Vorteile mit sich. Wenn ich doch nur herausfinden könnte, wer oder was dahintersteckte. Ich spitzte die Ohren, um auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Nichts, abgesehen von den natürlichen Geräuschen eines Waldes. Entweder war unser mysteriöser Unbekannter sehr gut darin, sich lautlos fortzubewegen oder er konnte die Illusion auch aus weiter Entfernung steuern. Der Gedanke, dass sich vielleicht jemand in der Nähe befand, der mich und meine Schwächen kannte, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Nervös beschleunigte ich meine Schritte. War das hier wirklich eine gute Idee? Lief ich gerade mit offenen Augen in mein Verderben? Zweifel krochen in mir hoch und wickelten sich wie Schlangen um meinen Brustkorb, sodass ich das Gefühl hatte zu ersticken. Okame, der nach meiner bissigen Erwiderung still geworden war, beäugte mich besorgt, als könnte er spüren was in mir vorging. „Wenn du gehen willst, ist das in Ordnung.", versuchte er mich zu beruhigen. Vielleicht war es wirklich das Beste, einfach umzudrehen und zu gehen, bevor es zu spät war. Doch sollte ich jetzt aufgeben, würde mich das verfolgen. Wenn Orochi sich erhob, würde ich nur daran denken können, dass ich es vielleicht hätte verhindern können. Dass er nie Unheil über die Welt gebracht hätte, wenn ich damals nur den Mut gehabt hätte, weiterzugehen. Deshalb ging ich weiter. „Ich will gehen.", gestand ich Okame. „Aber wenn ich diese Chance nicht nutze, werde ich mir das nie verzeihen." „Ich bin bei dir.", sagte Okame schlicht. Und dieser einfache Satz half. In all diesem Chaos war ich nicht allein. Ich hatte einen Freund gewonnen, der mir loyal zur Seite stand. Obwohl ich nicht gedacht hatte, nach Arias Verrat je wieder jemandem mein Vertrauen schenken zu können, stand jetzt dieser unverschämte, scheinbar sorglose und doch so verständnisvolle Halbdämon neben mir und unterstütze mich bei meinem Himmelfahrtskommando. Und das fühlte sich besser an als ein Schlag in Arias Gesicht es je könnte.

„Nicht mehr weit bis zu unserem Ziel.", teilte uns die Frau mit. Bei ihrem Lächeln, immer noch triefend vor Hinterlist und Tücke, wurde mir schlecht. Die Zweifel regten sich wieder, wollten mich wieder ersticken, um zu verhindern, dass ich auch nur einen weiteren Schritt tat. Aber ich ignorierte sie, stieß sie in eine entlegene Ecke meines Verstandes. Dennoch zitterten meine Beine, als ich meinen Weg fortsetzte. Die Übelkeit wurde schlimmer. Es war, als würde mein ganzer Körper mir zuschreien, nicht weiterzugehen, sondern schnellsten die Beine in die Hand zu nehmen und zu laufen. Ich konnte eine dunkle, schreckliche Macht spüren. Konnte den Tod, der in der Luft lag, beinahe schmecken. Wie ein fauliger Pelz auf meiner Zunge. Ob das nun daran lag, dass ich wahrscheinlich in mein Verderben rannte, oder dass ich dunkle Magie von Hoshoku-shas Zauber spürte, vermochte ich nicht zu sagen. Allerdings war auch Okame ungewöhnlich blass. Sein Gesicht, das sonst von einem hellen, sanften braun war, wirkte aschfahl im Schatten der Bäume. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war wie versteinert, als ob er sich alle Mühe gab, nicht seine Abscheu vor diesem Ort zu zeigen.

Plötzlich stoppte die Illusion. Sie trat beiseite und meinte: „Wie versprochen, der Altar." Mit einer kleinen, spöttischen Verbeugung bedeutete sie uns, nach vorne zu treten. Wir wagten uns aus dem Unterholz und betraten die Lichtung. Es gelang mir nicht, einen Aufschrei zu unterdrücken, als ich eine eingefallene Gestalt auf dem grasbedeckten Boden der Lichtung liegen sah. „Hisho!", rief ich, meine Stimme mehr ein Schluchzen als sonst etwas. Ich merkte kaum, wie Okame sanft meinen linken Unterarm umfasste, um mir Halt zu geben. Alles um mich herum war vergessen, als ich mit steifen Schritten auf Hisho zu stakste. Die Lichtung, die sich einer grotesken Schönheit erfreute, obwohl so schreckliche Dinge hier geschehen waren. Okame, der mein stiller Beistand war und auf mich aufpasste. Die Illusion meiner Mutter, die sich abwartend im Hintergrund hielt. Ich sah nur den alten Mann vor mir, dessen Augen trüb und blicklos gen Himmel starrten. Immer noch auf die Stelle gerichtet, an der er das letzte Mal das Sternenmeer am Himmel erspäht hatte, bevor er diese Welt verließ. Ich sah den Mann vor mir, der für Takashi wie ein Vater gewesen war, achtlos liegengelassen wie ein wertloses Stück Müll. Fahl und klein, nichts mehr auf den großen Geist hinweisend, der ihn einst erfüllt hatte.

Die letzte Prüfung [wird neu geschrieben]Where stories live. Discover now