12. Ritual

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„Wo gehen wir hin?", fragte ich Tsukiko, während ich ihr durch den Nebel folgte. Ob dieser Nebel wohl überall war oder nur diese Welt vor mir verbarg? Ich wusste es nicht und würde es wahrscheinlich auch nicht erfahren. Tsukiko gab sich sicher nicht mit solchen bedeutungslosen Fragen ab. „An eine Stelle, wo die Verbindung zur Welt der Lebenden stärker ist, damit ich dir zeigen kann, was in eben dieser Nacht geschieht. Ich könnte es dir auch einfach sagen, aber du musst es mit eigenen Augen sehen, damit du das Ausmaß der Situation auch nur annähernd begreifen kannst." Ich musste schlucken. Tsukikos Worte klangen nicht gerade verheißungsvoll. Aber ich war ja nicht für eine gemütliche Plauderstunde hier. Mal abgesehen davon dass dieser Nebel die Stimmung einer jeden Konversation verdüstern würde.

Nach kurzer Zeit blieb Tsukiko stehen. Ich sondierte die Umgebung genau, aber ich konnte nichts Besonderes feststellen. Die gleiche schwarze, staubige Erde, die gleichen Bäume, der gleiche Nebel. Eine Landschaft aus Schwarz und Grau, wie vorhin auch. Tsukiko hingegen schloss die Augen. „Wir sind hier richtig.", teilte sie mir mit. Sie wandte den Kopf nach mir um und taxierte mich mit ihrem Blick. „Stell dich neben mich.", forderte sie mich sanft auf. In ihren hellen Augen schimmerte Mitgefühl. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, was ich wohl sehen würde. Es konnte nur grausam sein. „Bist du bereit?", erkundigte sich Tsukiko. Nein, wollte ich schreien. Ich war keineswegs bereit. So viele Gräuel hatte ich in der letzten Zeit mitansehen müssen. Da wollte ich jetzt nicht Zeuge eines weiteren werden. Dennoch nickte ich, die Lippen fest zusammengekniffen. Tsukiko sah mich noch ein letztes Mal an, ehe sie konzentriert die Augen schloss. Ein blaues Licht begann im Nebel zu flackern und formte sich langsam zu einem unregelmäßigen Kreis. In dem Kreis war nun nicht mehr der trübe, hellgraue zu sehen, sondern ein dunkler Wald. Durch das spärliche Licht war es schwer, den mit Flechten und Ranken bewachsenen Steinaltar, der in der Mitte einer kleinen Lichtung stand, zu erkennen. Hinter dem Altar befand sich ein kleiner Teich, der dunkel schimmerte, nur erhellt von dem Sternenlicht, das sich durch die üppigen Baumkronen kämpfte. Kurze Zeit sah ich einfach nur die Lichtung, die still und einsam dalag. Doch dann traten drei Gestalten ins Bild. Zwei von ihnen standen aufrecht und stießen die Dritte vor sich her. Trotz der Dunkelheit war es leicht zu erkennen, wer die zwei waren, die gerade die Lichtung betreten hatte. Ich erstarrte und alles in mir zog sich zusammen. Hoshoku-sha und Aria warfen die dritte Gestalt auf den Boden. Ihr Opfer landete auf dem Rücken und keuchte schmerzerfüllt auf. Und auch ihn erkannte ich. Auf der Lichtung lag niemand geringerer als Hisho.

Hoshoku-sha

Er lachte, als der alte Mann zu Boden fiel und sich am Boden wand wie ein armseliger Wurm. Eine Schande, dass ein solches Klappergestell als Opfer für den allmächtigen Lord Orochi dienen würde. Aber da einer seiner engsten Verbündeten ihn bereitwillig als Opfer dargeboten hatte, war er nicht so töricht gewesen und hatte auf ein anderes beharrt. Noch hieß es, bedeckt zu bleiben. Aber nach einem Mondzyklus würde sein glorreicher Aufstieg beginnen. Lord Orochi würde sich erheben und ihm im Gegenzug das geben, was sein erkaltetes Herz schon seit so langer Zeit begehrte. Langsam rappelte sich der alte Mann auf, was sich mit gefesselten Händen als schwierig gestaltete. Es amüsierte ihn, wie er einfach nicht aufgeben wollte. Sein Schicksal war bereits besiegelt, es gab kein Entkommen. Aber es war amüsant den letzten, verzweifelten Versuchen des Mannes aufzustehen beizuwohnen. Noch einen Funken Hoffnung in ihm aufflackern zu lassen, ehe er die Flamme im Keim erstickte. Tatsächlich schaffte es der Alte, hochzukommen. In widerwilliger Anerkennung zog er die Augenbrauen hoch. Er hätte nicht gedacht, dass der Alte hochkommen würde. Doch nun stand er da, den Kopf erhoben. Seine schwarze Brille saß schief auf seiner Nase, die Augen dahinter waren getrübt. Dennoch strahlte er nur so vor Trotz. Den Kopf schüttelnd fixierte er den Greis mit seinen rot glühenden Augen. „Du blickst dem unvermeidlichen Tod in die Augen, und doch willst du nicht aufgeben." Er hatte vergessen, wie unendlich stur Menschen sein konnten. Besonders die Alten waren halsstarrig wie Esel. „Ich weiß", antwortete der Alte nur. Nun war er etwas verblüfft. Wenn er sich nicht aufgerappelt hat, um zu kämpfen, warum hatte er sich dann die Mühe angetan? „Wenn du deinen Tod akzeptierst, wieso stehst du dann noch?", fragte er, eine lang vergessene Neugier in seiner klangvollen Stimme. Der Alte hob stolz den Kopf. „Wenn ich sterbe, dann nicht kriechend und wimmernd auf dem Boden. Ich will in Würde in das Jenseits treten." Seine Stimme zitterte, aber die Entschlossenheit darin war stark. Nun lachte er erneut. „Du glaubst doch nicht, dass ich dir diesen Gefallen tun werde.", zischte er und stieß den Alten erneut zu Boden. Doch anstatt wieder versuchen, aufzustehen, blieb er regungslos auf dem Rücken liegen, den Blick in den Himmel gerichtete. Er trat auf die jämmerliche Gestalt zu und beugte sich langsam zu ihm hinunter, ein Grinsen voller Hohn auf den Lippen. „Dein ehemaliger Herr hat gesagt, dass du ihm seinen Sohn vertrieben hast. Ich glaube ich muss dir nicht sagen, dass er das nicht so toll fand." „Takashi ist nun frei. Dafür sterbe ich gerne!", rief der Alte aus. Ein helles, aber boshaftes Lachen erklang hinter Hoshoku-sha. Aria, die bis jetzt still beobachtet hatte, trat an den Mann heran. „Du hast deinen kostbaren Takashi nicht befreit, sondern in seinen sicheren Tod getrieben." Sie lächelte kalt, dann formte sie aus dem Nichts eine schwarze, scharfe Klinge. „Ich habe ihn getötet." In einer bedeutungsschweren Pause legte sie das Schwert an die Kehle des Mannes. „Mit dieser Klinge." Den letzten Satz sprach sie langsam und kostete jedes Wort davon aus. Hoshoku-sha konnte förmlich beobachten, wie aller Widerstand, aller Trotz aus ihm wich. „Nun, du wirst jetzt wohl nicht in Würde sterben, sondern mit der Schande, den Jungen, der für dich wie ein Sohn war, ins Verderben geschickt zu haben." Diese Worte waren leise, kaum hörbar über seine Lippen gedrungen, aber ihre Wirkung war um einiges höher. „Du hast deinen Jungen getötet!", setzte Aria hinzu und spuckte den Satz schon beinahe dem Alten ins Gesicht. Plötzlich richtete dieser so gut es ging auf, seine Augen funkelten. „Selbst wenn ihr die Wahrheit sagt und Takashi tot ist, dann war es deine Hand, die das Schwert geführt hat, das ihn getötet hat. Und wenn er wirklich tot ist, dann wird euch Yunas Zorn mit voller Macht treffen.", meinte er, seine Stimme kaum ein Wispern. Dann fuhr er fort: „Ihr könnt mich töten, aber ich vertraue Yuna und ich vertraue Takashi. Sie werden siegen!" „Sei dir da mal nicht so sicher!", zischte Aria und drückte das Schwert erneut gegen seine Kehle. „Ruhig.", meinte Hoshoku-sha. Mit einem stechenden Blick taxierte er die erbärmliche Gestalt vor ihm auf dem Boden. „Obwohl meine Begleiterin ein wenig die Kontrolle verloren hat: Sie hat recht. Mit deinem Tod wird etwas von enormer Bedeutung in Gang gesetzt. Du solltest dich eigentlich geehrt fühlen, dafür sterben zu dürfen." Der Alte sagte nichts mehr. Mit zusammengekniffenen Lippen richtete er seinen Blick gen Himmel. Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Hoshoku-sha bedeutete Aria, ihm das Schwert des Drachen zu überreichen, um den ersten Schritt des Rituals durchzuführen. Sie holte es aus einem ledernen Beutel und gab es ihrem Meister. Dieser erhob das Schwert über der Brust des Alten. Mit einem triumphierenden Grinsen blickte Hoshoku-sha auf den todgeweihten Mann herab, dessen Augen noch immer auf die Sterne. „Vergib mir Takashi, dass ich dich verlasse.", hauchte er, eine einsame Träne rollte seine Schläfen hinab und tropfte unhörbar auf den Waldboden. Das Schwert fuhr herab und durchbohrte sein Herz. Seine einzige Reaktion war ein Keuchen. Kurz darauf wurden seine Augen glasig und er lag regungslos am Boden, zu den Sternen blickend und ein seliges Lächeln auf den Lippen.

„Nein!", stieß ich fassungslos hervor. Tränen liefen mir über das Gesicht, doch ich bemerkte sie kaum. Mein Blick hing immer noch an Hisho, der am Boden lag. Tot. Ich hatte ihn nicht wirklich gut gekannt, aber durch Takashis Erzählungen kam es mir so vor. Eine weitere unschuldige, von Grund auf gute Seele war dem rotäugigen Seelenräuber zum Opfer gefallen. Und nicht nur das. Er wollte Orochi wiedererwecken. Das Monster, das zu besiegen es sieben Neunschwänze gebraucht hatte. Das ich, sollte es ihm gelingen, mit der Macht der sieben, allein bekämpfen sollte. Tsukiko saß stumm neben mir und wartete auf eine Reaktion. Das Fenster schloss sich langsam und kurz darauf sah ich wieder in die dichte Nebelsuppe. „Ich muss ihn aufhalten." Meine Worte klangen wie aus weiter Ferne. „Du kannst das Ritual nicht aufhalten, ohne die Macht deines Erbes als die letzte Kitsune bist du ihm nicht gewachsen. Niemand weiß wo dieser Altar ist. Und selbst wenn du ihn finden solltest, wird er von starken Zaubern geschützt, die niemand durchbrechen kann. Er ist zu mächtig." „Und wieso zeigst du mir das dann?", fragte ich Tsukiko mit erstickter Stimme. Ich sah sie nicht an, da mein Blick immer noch an dem Punkt verharrte, an dem ich Zeugin von Hishos Tod geworden war. Wie sollte ich das Takashi erklären, wenn er wieder aufwachte? „Ich habe es dir gezeigt, damit du weißt, was auf dich zukommt. Damit du weißt, dass Orochi wieder kommen wird.", erklärte sie mir. „Er wird nicht kommen. Nicht wenn ich es verhindern kann.", stellte ich in einem Ton klar, der keinen Widerspruch duldete. Dieser Altar musste im Flüsterwald sein. Gemeinsam mit Okame konnte ich ihn finden. Irgendwie würden wir die Barrieren überwinden und diesem Alptraum ein Ende setzen. „Du kannst nicht...", setzte Tsukiko an. „Ich kann und werde!", schleuderte ich ihr mit voller Überzeugung entgegen. Ich setzte mich in Bewegung und entfernte mich schnellen Schrittes von ihr. Und somit auch vor eventuellen Zweifeln.

Die letzte Prüfung [wird neu geschrieben]Where stories live. Discover now