5. Spur

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Takashi

Mutlos schritt ich durch die Einöde der Zwischenwelt. Ich wusste nicht, wie lange ich jetzt schon unterwegs war. Stunden, Tage, Wochen, keine Ahnung. Mein Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Es gab weder Nacht, noch Sonne. Nichts veränderte sich. Nichts ließ mich erkennen, wo ich war oder wie viel Zeit schon verstrichen war. Außer dem weiß-grauen Himmel, dem schwarzen Sand, den Baumskeletten und dem Nebel gab es nichts. Keine Abwechslung, keine Farben. Und ich hatte bis jetzt auch noch keine Menschenseele getroffen. Es hatte den Anschein als ob ich allein wäre. Aber laut Tsukiko gab es sogar eine Menge anderer Menschen hier. Unter anderem auch meine Mutter.

Ich fragte mich, wieso sie wohl hier war. Ob sie noch bei Sinnen war? Oder hatte sie, was am wahrscheinlichsten war, schon den Verstand verloren? Niemand konnte so lange in dieser leblosen Hölle festsitzen und einen klaren Kopf bewahren. Ich war noch nicht lange hier und stand schon am Rande der Verzweiflung. Wahrscheinlich würde ich bald auch am Rand des Wahnsinns stehen. Meine Hoffnung, dass ich tatsächlich hier rauskommen konnte, schwand immer mehr. Wie sollte man hier eine einzelne Person finden? Wenn ich wenigstens andere Leute treffen würde, damit ich zumindest nach irgendeinem Anhaltspunkt suchen konnte. Doch so hatte ich außer nichts nur nichts.

Dennoch zwang ich mich, weiterzulaufen. Auch wenn ich lieber sterben würde, als noch eine Sekunde länger in dieser deprimierenden Welt zu verbringen. Aber die Hoffnung, Yuna wiederzusehen hielt mich davon ab, einfach aufzugeben. Also machte ich einen Schritt nach dem anderen, überquerte schwarze Sanddünen, passierte Baumskelette, die wie dunkle Knochenhände in den trostlosen Himmel ragten.

Plötzlich nahm ich am Horizont eine Bewegung war. In der diesigen Luft konnte ich einen undeutlichen Schemen erkennen. Ich blinzelte mehrmals, um mich davon zu überzeugen, dass mir meine Augen keinen Streich spielten. Dann sprintete ich regelrecht los. Kurz fragte ich mich, warum ich nicht längst ausgelaugt war, oder Hunger und Durst verspürte. Aber wahrscheinlich konnte man als Geist nicht müde, oder hungrig werden.

Im Näherkommen entpuppte sich die Gestalt als eine alte, gebeugte Frau. Ungefähr zwei Meter von ihr entfernt kam ich zum Stehen. Zuerst schien sie mich gar nicht zu bemerken. Mit fahrigen Bewegungen sah sie sich um. Dabei rief sie mit einer rauen, krächzenden Stimme immer wieder einen Namen. Daisuke. Sie klang erschöpft, ausgelaugt. Bei ihrem hektischen Herumsehen fand ihr Blick schließlich mich. Ihre trüben Augen wurden groß, dann kam sie unerwartet schnell auf mich zu. Die alte Frau sah schrecklich aus. Ihr graues Haar war wirr und staubig und stand in alle Richtungen ab. In ihrem Gesicht gruben sich Falten wie Täler in ihre Haut. Die Schatten unter ihren Augen bildeten einen starken Kontrast zu ihrer fahlen, weißen Haut. „Daisuke? Bist du es?", fragte sie, ein Schimmer von alter, längst vergangener Hoffnung kämpfte sich in ihre von Leid und Trauer erfüllte Stimme. „Nein.", meinte ich bedauernd. Die alte Frau erstarrte, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Natürlich bist du es nicht! Ich habe auf dich gewartet. Eine alte, kranke Mutter, die ihren Sohn das letzte Mal sehen wollte." Ihre Stimme zitterte, ihr ganzer Körper bebte.

Langsam wandte sie sich ab, dann hob sie den Kopf gen Himmel. „Ich habe dich geliebt, Daisuke. Alles hätte ich für dich, meinen eigenen Sohn getan. Und was ist der Dank?" Wieder machte sie eine Pause. Auf einmal fuhr sie wieder zu mir herum. Nun war das einzige, was ich in ihren Augen sah, blanker Wahnsinn. „Du hast mich im Stich gelassen! Du hast deine Mutter, die dich über alles geliebt, in den letzten Momenten ihres Lebens alleine gelassen! Ich war alleine. Dein Vater ist schon vor mir gegangen. Als die ich krank wurde, warst du nicht da. Und als mich die Dunkelheit geholt hat, warst du auch nicht da!", schrie sie und wurde immer hysterischer. Dann fing sie an, auf mich einzuprügeln. Es fühlte sich seltsam an. Zwar spürte ich es, aber es tat nicht weh. Dennoch wich ich zurück. Nun begann die Frau wieder zu schreien: „Wo warst du? Wo war mein Sohn, als ich von dieser Welt gegangen bin?" Noch einmal wich ich zurück. Anstatt mir weiter zu folgen, brach sie auf dem Boden zusammen und fing an, bitterlich zu weinen.

Die letzte Prüfung [wird neu geschrieben]Where stories live. Discover now