Ich stand mit Yusei wieder einmal auf der Lichtung. Doch diesmal nicht, um meine Magie zu trainieren. Heute stand ich mit dem Katana in der Hand vor ihm. Er hatte ebenfalls eines in seinen Händen. Das glänzende Metall funkelte hell in dem von oben herabfallenden Sonnenlicht. Man merkte allmählich, dass sich der Frühling dem Ende zuneigte und dem Sommer seine Pforten öffnete. Selbst hier in den Bergen gewann die Sonne schon einiges an Kraft, wenn sie ihren höchsten Stand am Himmel erreicht hatte.
„Nun, dann wollen wir einmal anfangen!", meinte Yusei gespielt fröhlich, doch er konnte nicht verbergen, wie sehr ihn die letzte Nacht mitgenommen hatte. Schließlich hatte auch er einen Verlust erlitten. Mir tat Yuutos Tod zwar leid, doch ich hatte ihn nicht gut genug gekannt, um wirklich um ihn zu trauern. Yusei hingegen musste ihn schon etliche Jahre gekannt haben. Und dennoch war er hier mit mir, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und trainierte mich. Mir war klar, warum Yusei Tempelleiter geworden war. Nicht allein seine Macht war das Ausschlaggebende, sondern sein Wille, sich für andere einzusetzen, ja sogar aufzuopfern, um ihnen zu helfen. Er konnte sich und seine Bedürfnisse in den Hintergrund stellen und das Wohl seiner Leute zu seiner obersten Priorität machen. Selbstlosigkeit. Die Eigenschaft, die laut meiner Großmutter einen wahren Anführer ausmachte. Ich hatte erst gerade am eigenen Leib erfahren, wie weh Selbstlosigkeit tat, wie schwer es war, nicht seine eigenen, egoistischen Bedürfnisse an die erste Stelle zu setzen. Man kam nicht umhin, Yusei zu bewundern.
Dieser schien meine Gedanken erraten zu haben, denn nun umspielte ein leises Lächeln seine Lippen. Kaum merkbar, aber ehrlich. „Also, zuerst musst du dich breitbeinig hinstellen.", fing Yusei an, mir Instruktionen zu geben. Ich tat wie geheißen. „Ein breiter Stand ist wichtig, um beim Kampf nicht dein Gleichgewicht zu verlieren. Als nächstes platzierst du deine rechte Hand ganz oben am Griff.", fuhr er fort. Vorsichtig schloss ich meine Hand um das obere Ende des Griffs und sah dann Yusei fragend an. Mit einem aufmunternden Nicken signalisierte mir Yusei, dass ich es richtig machte. „Dann legst du deine linke Hand ans untere Ende des Griffes. Das Katana wird beidhändig geführt.", erläuterte er weiter. Also schloss ich nun auch meine linke Hand um den Griff. Das von der Sonne aufgewärmte, glatte Leder fühlte sich angenehm in meiner Hand an. Erwartungsvoll richtete sich mein Blick auf Yusei. „Gut so.", lobte er mich.
Nun ging er selbst in eine breitbeinige Position und umschloss den Griff seines Katanas fest mit beiden Händen. Dann hob er plötzlich die Waffe über seinen Kopf, nur um sie den Bruchteil einer Sekunde später pfeilschnell wieder herabsausen zu lassen. Die Bewegung war so schnell und fließend, dass man sie kaum wahrnahm. Ehrfürchtig sah ich zu ihm auf. Er schmunzelte, dann holte er zu einer Erklärung aus: „Das ist einer der Grundschläge. Man holte über dem Kopf aus und lässt dann die Klinge herabfahren. Damit kannst du deinem Gegner den Bauchraum aufschlitzen und mit genug Kraft sogar seinen Schädel spalten." Ich schüttelte den Kopf bei der Vorstellung. Mir widerstrebte es, derartige Gewalt anzuwenden. Selbst, wenn ich damit mein Leben rettete. Nur bei Hoshoku-sha würde ich diesen Schlag nur all zu gerne ausführen. Doch mit einer einfachen Schwertbewegung, noch dazu als ungeübte Kämpferin, würde ich damit wohl kaum Erfolg haben. Deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Yusei. „Versuch, diese Bewegung auszuführen.", forderte mich dieser auf. Also hob ich das Katana über meinen Kopf. Ich atmete einmal tief durch und ließ die Klinge dann herabfahren. Dabei kam ich ins Stolpern. Nur mühsam fand ich mein Gleichgewicht wieder. Das Gewicht er geschwungenen Klinge hatte mich überrumpelt. Selbst dieser so einfach wirkende Schlag vermochte es, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ich erhob erneut die Klinge, diesmal wohl wissend, welche Wirkung deren Schwingen auf mich haben wurde. Konzentriert bereitete ich mich auf den nächsten Schlag vor. Ich festigte bewusst meinen Stand, spannte meinen Körper an, und durchschnitt im nächsten Moment die Luft vor mir mit einem kräftige Schwung meines Katanas. Und ich stand da, wie im Boden festgewurzelt. Zwar war meine Ausführung nicht sehr elegant und etwas wackelig gewesen, doch zumindest stand ich fest auf meinen beiden Beinen. Triumph wallte in mir auf. Es war zwar nur ein kleiner, wahrscheinlich sogar unbedeutender Erfolg, doch in diesen trüben Zeiten wollte ich mich an jedes positive Gefühl, an jedes gute Ereignis klammern, um irgendwie zu verhindern, dass mir meine Hoffnung vollends entglitt.
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Die letzte Prüfung [wird neu geschrieben]
FantastikBand zwei Es ist Hoshoku-sha gelungen, sich von dem Fluch, der auf ihm lag, zu befreien. Nun, auf der Höhe seiner Macht, hält ihn nichts mehr davon ab, seine Ziele zu verwirklichen. Yuna lässt derweil schweren Herzens Takashi, der schwer verwundet u...