Missmutig beäugte Mycroft die Zeitung. Bereits zum dritten Mal las er ein und den selben Artikel. Von seinem Frühstück hatte er kein bisschen angerührt und besonders viel gesagt hatte er am heutigen Morgen auch noch nicht. Man musste kein Holmes sein, um zu erkennen, dass Mycrofts gestriger Besuch in dem Hochsicherheitsgefängnis nicht sonderlich zufriedenstellend für ihn ausgefallen war.
Doch da Mycroft offensichtlich gerade nicht darüber sprechen wollte, beschloss ich, das Thema auf später zu verschieben.
Stattdessen beugte ich mich zu ihm herüber und erhaschte so einen Blick auf die Schlagzeilen, die in Großbuchstaben auf der Titelseite der Zeitung prangten:
Jack the Ripper 2.0 - Finanzbetrüger Jack Evans (43) bereitet der britischen Regierung weiterhin Probleme.
Darunter war das Foto eines dunkelhaarigen Mannes mit markantem Unterkiefer und dichten Wimpern abgedruckt.
Er hatte stechend grüne Augen, die etwas Unheimliches ausstrahlten. Hätte sein durchdringender Blick nicht so etwas psychopathisches an sich, hätte ich ihn vielleicht als gut aussehend bezeichnet. Doch dieser Mann wirkte auf eine unheilvolle Art zu allem fähig.
"Jack the Ripper 2.0?", fragte ich stirnrunzelnd.
"Die Presse lebt nun einmal von Übertreibungen", meinte Mycroft bloß schulterzuckend. "Ich denk sie überschätzen seine Fähigkeiten, wenn sie ihn mit dem legendärsten Serienmörder Londons vergleichen"
Fragend blickte ich ihn an. "Ist das der Fall, in den du involviert bist?", fragte ich ein wenig beunruhigt.
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieser Psychopath alleine mit Mycroft in einer Zelle saß und sich von ihm verhören ließ.
"Ich hatte es schon mit schlimmeren Kriminellen zu tun", erwiderte Mycroft mit einer gespielten Gleichgültigkeit.
Doch ich wusste, dass er sich - im Gegensatz zu seinem Bruder - eher mit der ungefährlicheren Theorie befasste, wenn es um das Thema Schwerverbrecher ging.
Auch wenn Mycroft seine Fassade weiterhin aufrecht erhielt, war ich mir sicher, dass er das Ganze nicht so auf die leichte Schulter nahm, wie er sagte.
Irritiert musterte ich meinen Freund, der sich wieder dem Zeitungsartikel gewidmet hatte. Wieso nahm ihn dieser Fall so mit?
Schon die alleinige Nachricht von Sherlock hatte ausgereicht, um Mycroft vollkommen aus der Fassung zu bringen.
Besorgt fragte ich mich, ob er mir noch immer ein entscheidendes Detail verschwieg.
Doch schon im nächsten Moment kam ich mir blöd vor, weil ich Mycroft hinterfragte, anstatt ihm einfach zu vertrauen.Nachdem ich einige Stunden gelangweilt vor dem Fernseher verbracht und von einem Programm zum nächsten geschaltet hatte, beschloss ich, Mycroft einen Besuch bei der Arbeit abzustatten.
Als ich eine halbe Stunde später mit zwei dampfenden Kaffeebechern vor seiner Bürotür stand, musste ich schmunzelnd daran zurückdenken, wie Mycroft mich vor einiger Zeit mit einem spontanen Besuch und Kaffee überrascht hatte.
Damals hatten wir uns erst seit einigen Wochen Nachrichten geschrieben und noch nicht gewusst, worauf das mit uns einmal hinauslaufen würde.
Und auch wenn es zeitweise wirklich kompliziert gewesen war, hatten wir es geschafft. Sollte es also jetzt in Mycrofts Leben wieder Komplikationen geben, würde ich für ihn da sein, um diese gemeinsam mit ihm zu bewältigen. Außerdem konnte Mycroft ein wenig Ablenkung sicher nicht schaden.
Ich lächelte zufrieden.
Dann klopfte ich an Mycrofts Bürotür.
Stille.
Ich klopfte erneut, diesmal lauter.
Wieder keine Antwort.
Nach dem dritten Klopfen, öffnete ich die Tür und trat in Mycrofts Büro.
Wie zu erwarten, war es leer.
Keine Spur von Mycroft.
Etwas verunsichert ließ ich mich auf dem Stuhl gegenüber von Mycrofts Schreibtisch nieder.
Vielleicht hätte ich mein Kommen doch vorher ankündigen sollen.
Doch ich hatte Mycroft schließlich überraschen wollen.
Ein wenig bedeppert stellte ich die Kaffeebecher auf dem Schreibtisch ab und blickte zu dem Portrait hoch, welches an der Wand über Mycrofts Sessel hing.
Wahrscheinlich befand sich Mycroft bloß in einer wichtigen Konferenz und würde gleich wieder kommen.
Während ich wartete, entdeckte ich in einer Ecke seines Büros eine Glasvitrine mit Auszeichnungen von Mycroft, die ich bisher noch nie wahrgenommen hatte.
Interessiert stand ich auf und betrachtete die eingerahmten Abschlüsse verschiedener Studiengänge und schmunzelte als ich das Zertifikat 'Schülersprecher' bemerkte.
Dann fiel mir jedoch ein Foto ins Auge, auf dem Mycroft in
dunkelblauer Absolventenrobe und Doktorhut neben einem anderen Absolvent stand, der einen Arm um ihn gelegt hatte... und mir verdammt bekannt vorkam!
Die stechend grünen Augen schienen mich direkt aus dem Bild heraus anzustarren.
Das Foto bereitete mir eine Gänsehaut. Und das nicht nur, weil dieser junge Mann definitiv etwas Bedrohliches an sich hatte oder Mycroft ihm ein Lächeln schenkte, das viel zu sehr dem Blick ähnelte, mit dem er mich manchmal ansah.
Diese Fotografie war auch der Beweis dafür, dass Mycroft und Jack Evans sich bereits kannten - und das anscheinend besser, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Und es war der Beweis dafür, dass Mycroft mir weiterhin die Wahrheit verschwiegen hatte.
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Mystrade - One Call Away (Sherlock)
FanfictionEine Möglichst realistische und an die BBC Serie Sherlock angepasste Fanfiction über Mycroft Holmes und Greg Lestrade... ^^ (+ ein paar OS ;) )