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"Woah, wie schön." staunend lehnte ich mich über das Geländer unseres Balkons.

Nachdem wir mit dem Flugzeug in London gelandet waren, -die Landung war, nebenbei bemerkt, fast genauso schlimm, wie der Start- waren Leon und ich mit einem Taxi nach Christchurch gefahren.
Die Fahrt ging fast noch einmal zwei Stunden, die ich größtenteils mit Schlafen verbrachte.

Die ganze Aufregung und der Trubel am Flughafen, hatte mich nun doch ziemlich müde gemacht. Außerdem hatte ich mich strikt geweigert selbst auf englischen Straßen zu fahren, das wollte ich niemandem antun und weil Leon wegen seiner Verletzung auch nicht fahren durfte, hatten wir uns ein Taxi gebucht.

Mein erster Weg, den ich in unserer Unterkunft antrat, führte mich direkt auf den Balkon. Nur eine Straße und ein schmaler Park trennte uns von hellem Sandstrand. Dahinter erstreckte sich in voller Pracht der Pazifik.
Bis zum Horizont reichte das dunkle Wasser und irgendwo dahinter musste Frankreich liegen.

"Wow." der Fußballer trat neben mich "Die Aussicht ist der Hammer." wiederholte er meine Meinung.
Er ließ sich auf den weißen Plastikstuhl fallen, der dabei ein befremdliches quietschen von sich gab.
"Hast du gut ausgesucht." er grinste und schirmte seine Augen vor der untergehenden Sonne ab.

Ich nickte bloß und fand immernoch keine Worte, die mein Empfinden beschreiben konnten.
Ich hätte vor Glück platzen können.

Mit einem tiefen Atemzug sog ich die salzige Luft ein. Ein breites Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit, während ich die letzten warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut genoss.
Dieses Freiheits Gefühl hatte mir schon lange gefehlt.

"Willst du gleich morgen zu deiner Mutter fahren?" fragte der Münchner plötzlich.
Ich hielt stockend den Atem an, umgehend machte sich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust breit.

Bei den ganzen Emotionen hatte ich fast den einzigen Grund vergessen, der uns hier her geführt hatte.
Meine Mutter.

Ich hatte nur bei dem Gedanken sie wieder zu sehen Angst davor, was passieren würde.
Ob sie mich überhaupt sehen wollte?
Es war schließlich schon über zehn Jahre her.
Vielleicht hatte sie mich auch vergessen, oder ihre Adresse war gar nicht mehr aktuell.

"Hey-" ich spürte eine sanfte Berührung an meiner Hand.
Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, wie fest ich mit meinen Fingern das Geländer umschlossen hatte.
Leon löste meine Hände und hielt sie in seinen fest. Meine Finger waren im Gegensatz zu seinen eisig kalt.
"Du musst das nicht alleine durchstehen, deshalb bin ich hier." sachte zog er mich in eine Umarmung, die ich ohne Umstände erwiderte.

Eine wohlige Wärme umhüllte mich und mein Herz begann lautsark gegen meinen Brustkorb zu klopfen. Gerade liefen mir so viele Dinge durch den Kopf.
"Leon?" ein heißeres Flüstern kam über meine Lippen.
Er hielt mich weiterhin fest "Ja?", ich spürte seinen Atem auf meiner Haut.
Ich wollte ihm so vieles sagen.
Alles, was ich fühlte.
"Danke."

Langsam schob mich der braunhaarige ein Stück von sich weg und schaute mich an.
In seinem Blick lagen mindestens genauso viele unausgesprochene Worte. Wir mussten darüber sprechen. Irgendwann.
Doch keiner von uns wollte dieses Gespräch beginnen. Stattdessen zog mich Leon neben sich auf die schmale Bank, die an der Wand angelehnt war.

Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf seiner Schulter ab und starrte in die unendliche Weite des Ozeans. Sie würde mir sehr wahrscheinlich keine Antwort geben, auf die tausenden Fragen die ich hatte. Und ganz bestimmt auch keine Gewissheit, bis ich mir nicht selbst darüber klar war, wo ich gerade stand.

Aber das entfernte Rauschen der Wellen beruhigte mich.
Meine tosende Gedankenwelt kam langsam aber sicher zur Ruhe, bis ich endlich nur noch diesen Moment genießen konnte.
Die untergehende Sonne tauchte die Umgebung in die verschiedensten Rot und Gelb Töne und kreierte ein wunderschönes Kunstwerk am Firmament.
Ich wagte es kaum zu atmen, so sehr wollte ich mir diesen Anblick einprägen und nie wieder vergessen.

Tief atmete ich ein "Ich fahre dann morgen früh gleich zu meiner Mutter." ich versuchte entschlossen zu klingen, aber meine zitternde Stimme verriet meine innere Unsicherheit.
Leon's gleichmäßiger Atem stoppte kurz, ehe er sich räusperte "Gut. Ich komme mit."

Ruckartig löste ich meinen Blick vom Horizont und hob meinen, Kopf von Leons Schulter an, um den braunhaarigen anzuschauen "Leon, das musst-" setzte ich an, wurde jedoch sofort unterbrochen, "Keine Wiederrede. Ich komme mit."
Er drehte seinen Kopf in meine Richtung, mir war klar, dass ich an seiner Entscheidung so oder so nichts ändern konnte. Deshalb nickte ich einfach nur.

Natürlich war es mir lieber Leon an meiner Seite zu haben. Aber es machte mir gleichzeitig auch Angst ihn so sehr in mein Leben zu lassen. So lange kannten wir uns schließlich noch gar nicht. Andererseits fühlte es sich einfach so richtig an.

"Wie geht es eigentlich deinem Vater?" lenkte mich der Münchner von meinen Gedanken ab.
Seufzend ließ ich meinen Kopf zurück auf seine Schulter fallen und betrachtete kurz das Spektakel am Himmel, das langsam immer dunkler wurde.
Ein kühler Wind wehte mir um die Ohren.
"Ganz gut denke ich. Er hat ja jetzt eine Freundin, die ihn besucht solange ich nicht da bin." ich klang verbitterter als ich eigentlich wollte.
Doch Leon wurde hellhörig, er kannte schließlich nur die halbe Geschichte. Deshalb begann ich ihm von allem zu erzählen.

"Naja, ist doch schön wenn er endlich wieder jemanden an seiner Seite hat." meinte Leon, nachdem ich von meinem Vater und seiner verheimlichten Karol erzählt hatte. "Niemand ist gerne alleine." schob er leise hinterher.
Zögerlich nickte ich. Obwohl mir bewusst war, dass er meine Geste nicht mehr sehen konnte. Es war mittlerweile schon fast dunkel geworden, der Horizont leuchtete nur noch in einem schwachen Rot Ton und das Meer hatte sich in ein tiefes schwarz gefärbt.

"Aber er hätte es mir nicht so lange vorenthalten dürfen." warf ich nach einer Weile ein. Wenngleich ich meinem Vater eigentlich fast schon wieder verziehen hatte.
Ich zog meine Beine an meinem Körper, wir saßen mittlerweile schon so lange draußen, dass mein rechter Fuß dabei eingeschlafen war.
Mein Kopf ruhte jedoch noch immer auf Leon's Schulter und auch der Fußballer hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Seine Hand lag neben meinem Oberschenkel und berührte immer mal wieder kurz meine Haut dort. Und jedesmal jagte diese klitzekleine Berührung einen Schauer durch meinen Körper.

"Wie sind deine Eltern so?" fragte ich nach einer Weile, in der wir geschwiegen hatten.
Ich merkte, wie Leon sich kaum merklich bewegte. Er hatte seinen Kopf ein wenig in meine Richtung geneigt.
"Sie sind die nettesten Menschen auf dieser Welt." ich hörte das Lächeln aus seiner Stimme heraus. "Aber ich sehe sie leider viel zu selten. Sie wohnen beide in Bochum, genauso wie meine beiden Schwestern."

Leise unterbrach ich ihn "Du hast nie erwähnt, dass du Schwestern hast."
Ich zog meine Hand aus der Tasche meines Pullis und wollte sie an der Seite ablegen, doch dort lag schon Leons Hand. Erschrocken zuckte ich zurück, aber als ich sie wieder weg ziehen wollte hielt er mich fest und verschränkte unsere Finger.

Für eine Moment stockte mein Atem, doch schon gleich ließ ich mich wortlos auf die warme Berührung ein.
"Meine Schwestern sind beide älter als ich. Sie haben beide schon ihre eigene kleine Familie. Ich bin schon drei Mal Onkel geworden." begeistert erzählte Leon mir von seinem Fünfjährigen Neffen und den zwei kleinen Mädchen.
So wie er von ihnen erzählte könnte man geradezu meinen, dass er selbst der Vater wäre.
"Du kannst wohl echt gut mit Kindern." meinte ich nach einer Weile.

Ich merkte wie der braunhaarige nickte "Schon mit 14 hab ich den damaligen Babysitter für meinen Cousin gespielt. Ich war der einzige bei dem er immer aufgehört hatte zu schreien und zu weinen." Leon lachte leise.
"Willst du mal Kinder?" hakte ich interessiert nach, woraufhin der Münchner sofort bejahte "Und du?" fragte er mich.

Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. "Ich glaube nachdem, was ich alles erlebt habe wäre ich eine ziemlich ziemlich schlechte Mutter."
Ich wusste ja nichtmal, ob ich überhaupt jemals dafür bereit wäre eine eigene Familie zu gründen.

Leon drückte sanft meine Hand "Ich glaube du wärst eine fantastische Mutter."

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Polaroid  - Leon GoretzkaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt