Kapitel 3

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Langsam trieb sein Geist wieder an die Oberfläche. Erste Informationen drangen ins Bewusstsein. Weiche Unterlage. Tickende Uhr. Erinnerungen gesellten sich dazu. Die Zelle. Seine Flucht. Die Verfolger. Mit einem Ruck schoss Nils hoch. Sein Kopf dröhnte, doch er widerstand dem Drang, sich wieder hinfallen zu lassen. Er sah sich um. Ein gewöhnliches Wohnzimmer. Ein Sofa, auf dem er lag, ein Sessel, ein Tisch, ein Fernseher, irgendwelche Bilder an den Wänden. Und ihm alles völlig unbekannt. Er schwang die Beine von der Couch und setzte sich hin. Stöhnend massierte er sich die Schläfen.

Wo bin ich hier? Und wie bin ich hierher gekommen? Fuck, Déjà-vu! Wieso passiert mir sowas?

»Ah, du bist wach! Hier, trink das, wenn du willst.«

»Whoa!«, entfuhr es Nils und er zuckte erschrocken zusammen. Wie aus dem Boden gewachsen stand ein junger Mann neben dem Sofa und hielt ihm ein Glas Wasser hin. Er hätte geschworen, dass er in der Sekunde vorher nicht da gewesen war.

»W-Wer bist du? Und wo bin ich hier?«

»Ich bin Edward. Oder auch Ed, aber bloß nicht Eddy. Und du bist in meinem Haus. Und wie heißt du?«

»Ich bin Nils. Nils Bender.«

Er überlegte fieberhaft. Der Kerl gehörte definitiv nicht zu seinen Verfolgern, aber vielleicht steckte er mit denen unter einer Decke. Er scannte ihn von oben bis unten. Schätzungsweise Anfang 20, hochgewachsen, schlank, schmales Gesicht, dunkelbraune, fast schwarze Haare, Knebelbart und stahlblaue Augen, die ihn durchdringend anblickten und durch die dunklen Augenringe noch heller erschienen.

»Was ist mit dem Wasser? Willst du oder nicht?«
Nils schrak aus seinen Gedanken hoch. Erst jetzt bemerkte er, dass er einen trockenen Hals und auch ziemlichen Durst hatte.

»Danke.« Er griff nach dem Glas und schnupperte vorsichtig daran, bevor er einen Schluck davon nahm.

»So, dann erzähl mal. Wieso waren die hinter dir her?«, fragte Ed und setzte sich mit einer fließenden Bewegung in den Sessel.

»Was ist passiert? Wo sind die?«

»Keine Angst, ich habe mich um sie gekümmert.«, sagte Ed mit einem freundlichen Lächeln und leckte sich kurz über die Lippen, »Wieso waren die hinter dir her?«

»Keine Ahnung! Ich war zuhause, bin eingeschlafen und in einer dreckigen Zelle aufgewacht. Ich weiß nicht, wie ich da hingekommen bin. Der Gorilla, der mich verfolgt hat, war ebenfalls da. Ich bin geflohen, aber dann waren sie in der S-Bahn und haben mich gejagt. Ich kenne diese Figuren nicht!«, brach es aus Nils hervor. Edward sah ihm tief in die Augen, als versuche er, die Wahrheit dort abzulesen. Schließlich stützte er die Ellenbogen auf die Sessellehne, legte die Fingerspitzen aneinander und nickte nachdenklich.

»Da waren zwei Polizisten dabei. Was hast du ausgefressen?«

»Nichts! Das schwöre ich dir! Ich hab nichts gestohlen, hab nix mit Drogen am Hut oder sonst was. Ich weiß nicht, warum die Polizei hinter mir her war!«

Ein belustigtes Grinsen huschte über Eds Gesicht.

»Natürlich. Das sagen sie alle.«
Die Unterstellung machte Nils wütend.

»Was hast du eigentlich zu verbergen?«, ging er zum Gegenangriff über.

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas zu verbergen hätte?«, antwortete Ed spöttisch.

»Jemand, der nichts zu verbergen hat, würde niemandem helfen, der vor der Polizei flieht und ihn anschließend verstecken!«

»Du bist ein schlaues Kerlchen. Sagen wir, ich hatte meine Gründe.«, entgegnete Ed mit einem feinen Lächeln.

»Was soll das heißen? Gründe? Was hast du dort überhaupt gemacht? Und wie bist du mit den dreien fertig geworden? Du bist ja nun auch nicht gerade der Kräftigste, im Gegensatz zu den beiden Polizisten und dem Gorilla.«

»Ich war was trinken, da habe ich den Lärm auf der Straße gehört und wurde neugierig.«, antwortete Ed ausweichend.

»Das ist keine Antwort!«

»Natürlich ist das eine Antwort.«

»Aber nicht die vollständige Wahrheit!«

»Es bleibt dir unbenommen, das so zu sehen.«, sagte Ed gleichgültig. Seine Antworten oder besser Nicht-Antworten trieben Nils so allmählich in den Wahnsinn.

Ed legte den Kopf schräg und fragte: »Was ist mit deinem Blut?«

Nils wurde von dieser zusammenhanglosen Frage überrumpelt.

»Häh?«

»Dein Blut. Es ist anders.«, erklärte Edward geduldig.

»Was hat das jetzt damit zu tun? Wie kommst du darauf? Wovon redest du?«

Nils begann zu glauben, dass er dem nächsten Verrückten in die Arme gelaufen war.

Vom Regen in die Traufe. So eine Scheiße! Warum passiert immer mir so etwas?

Ed seufzte.

»Na gut, fangen wir ganz vorne an.«

»Ich bitte darum!«

»Ich bin ein Vampir.«

Nils stutzte für einen Moment, dann begann er zu lachen.

»Ja, klar. Und ich bin ein Werhuhn, das bei Sonnenaufgang Stahleier legt. Wunderbar, dass wir uns getroffen haben. Toller Witz.«

»Du glaubst mir nicht.«, stellte Ed fest.

»Da hast du verdammt re...«

Im nächsten Augenblick saß er nicht mehr auf dem Sofa, sondern Ed hatte mit einer Hand sein T-Shirt an der Brust gepackt und hielt ihn an der Zimmerwand hoch. Er hatte nichts von dem Ortswechsel mitbekommen. Ed fauchte ihn mit blutunterlaufenen, rötlich schimmernden Augen an und Nils sah deutlich die überdimensionalen Reißzähne.

Oh Shit!

Gejagt!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt