Kapitel 4

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»Glaubst du mir jetzt?«

Langsam bildeten sich die Reißzähne und die zu Krallen gewordenen Fingernägel zurück. Seine Augen verloren ihren rötlichen Glanz und nahmen wieder ihr normales Aussehen an.

Edward hielt Nils immer noch mühelos mit einer Hand hoch und platzierte ihn auf dem Sofa. Er setzte sich wieder in den Sessel und sah ihn durchdringend an. Nils zitterte nach wie vor am ganzen Leib und hatte sichtlich Mühe, sich zu beruhigen. Mit zitternden Händen trank er einen Schluck Wasser, um einen Moment Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu sortieren.

»Aber ... Aber wie kann das sein? Vampire gibt es doch nur in Filmen oder Märchen?«

»Wie du siehst, steckt in den meisten Legenden ein Körnchen Wahrheit.«

Schlagartig fiel Nils wieder Eds seltsame Frage von vorher ein und packte sich schützend an den Hals.

»Du ... Du wolltest mein Blut trinken!«, erkannte er.

»Ich sag's ja. Du bist ein schlaues Kerlchen«, grinste Ed, »So, nachdem die Sache mit dem Vampir jetzt klar ist, würde ich gerne weitererzählen, wenn's genehm ist?«

Nils nickte nur eingeschüchtert und verunsichert.

»Also, wie gesagt, ich war etwas trinken in einem Haus dort an der Straße, da hörte ich von unten den Lärm.«

»Etwas trinken? Du meinst, du hast einem Menschen das Blut ausgesaugt?«, fragte Nils entsetzt.

»Ja, ich sagte doch, ich war was trinken. Hör mal, wenn du mich ständig unterbrichst, sitzen wir morgen noch hier.«

»Äh, ok, erzähl weiter.«

»Daher hab ich der ... Blutspenderin eine Hypnose verpasst und bin auf den Balkon. Normal hätte ich mich nicht eingemischt und es wäre mir auch egal gewesen, aber als dieser Türsteherverschnitt dich mit der Spritze außer Gefecht setzte, habe ich es mir anders überlegt.«

»Warum?«

»Erstens, wenn die Polizei jemanden festnimmt, der sich wehrt, dann mit körperlicher Gewalt, Pfefferspray, Waffen oder so. Aber mit einer Spritze? Da dachte ich mir, dass da mehr dahinterstecken muss. Zweitens, als der mit der Spritze zugestochen hat, habe ich kurz dein Blut gewittert. Es war ... anders. Ich bin aus dem dritten Stock runter auf die Straße gesprungen, habe die Polizisten und den Gorilla ausgeschaltet und dich hierher geschafft. Als ich dann dein Blut getrunken habe ...«

»Warte! Du hast mich gebissen und von meinem Blut getrunken?«, unterbrach er ihn entsetzt und tastete prüfend an seinem Hals herum.

»Nicht da. Am Handgelenk.«

»Was?« Ruckartig ließ Nils seine Kehle los und inspizierte panisch seine Arme.

»Das war ein Witz. Natürlich habe ich in deine Halsschlagader gebissen. Ein Kenner würde immer aus der Halsschlagader trinken, dort ist das Blut am sauerstoffreichsten und schmeckt daher frischer und blumiger«, dozierte Ed herablassend.

»Aber ich habe doch keine Wunde am Hals?«

»Der Speichel von Vampiren enthält ein Sekret, das die Wundheilung rapide beschleunigt.«

»Du beißt mich, trinkst mein Blut und leckst mir dann am Hals herum?«, fragte Nils ungläubig und mit einem leichten Anflug von Ekel, »Sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

Ed schüttelte den Kopf.

»Moment! Du hast mich gebissen! Heißt das, dass ich jetzt zum Vampir werde?« Mit einer Mischung aus Schrecken und Verzweiflung sah er Ed an.

»Nein, dafür hättest du mein Blut trinken müssen.«

Erleichtert ließ sich Nils nach hinten sinken.

»Aber irgendetwas stimmt mit deinem Blut nicht. Ich hatte kaum Zeit, deine Wunde zu versiegeln, als mir rasend schnell übel wurde. Sowas ist mir in meiner ganzen Existenz noch nicht passiert. Ich habe Blut von Menschen aller Nationen, jeden Alters und aller Blutgruppen getrunken, von Gesunden wie Kranken, sogar Tierblut, wenn es keine anderen Möglichkeiten gab, aber es ist nie vorgekommen, dass mein Körper das Blut nicht verarbeiten konnte. Du hast keine Vorstellung, wie unangenehm und schmerzhaft es für einen Vampir ist, Blut wieder auszukotzen. Also, was ist an deinem Blut so besonderes?«

Edward hatte sich während seines kleinen Vortrags in Rage geredet, lehnte sich nun nach vorne und sah Nils auffordernd an.

»Ich habe keine Ahnung!«

»Warum waren die hinter dir her? Was ist passiert? Warum ist es passiert?«

»Ich weiß es doch nicht!«, rief Nils verzweifelt, »Ich bin von der Schule nach Hause gegangen, habe mich schlafengelegt und bin in diesem Alptraum wach geworden. Ich erinnere mich an nichts!«

»Na gut, dann werden wir zusammen herausfinden, was dahinter steckt.«

»Eigentlich möchte ich nur nach Hause und das Ganze am besten vergessen.«

»Das verstehe ich. Aber ich fürchte, so einfach wird das nicht laufen. Immerhin ist die Polizei hinter dir her.«

Nils überlegte.

»Warum willst du mir denn überhaupt helfen?«

»Weil es mich interessiert, wieso ich meine Lieblingsmahlzeit nicht mehr vertrage und ich Zeit habe.«, sagte Ed gelassen.

»Das Erste verstehe ich, aber was meinst du mit ›Zeit haben‹?«

»Wenn du so lange lebst wie ich, dann hast du irgendwann alles probiert, alles erlebt. Der größte Fluch der Unsterblichkeit ist die Langeweile«, seufzte Ed.

»Ich bin für dich nur sowas wie eine Daily Soap?«, fragte Nils ungläubig. Ed lachte herzhaft.

»Wenn du es so ausdrücken willst – ja. Ich hoffe aber darauf, dass du ein Blockbuster wirst. Und jetzt lass uns zu dir nach Hause fahren. Wir müssen ja mit unseren Nachforschungen beginnen, und da du dich daran als Letztes erinnerst, bevor das alles begonnen hat, sollten wir dort anfangen.«

Gejagt!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt