Kapitel 7

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Im Innenhof eines abbruchreifen Hauses blieb Ed sehen und stellte ihn wieder auf seine Füße.

»Was jetzt?«, fragte Nils.

»Du wartest hier und hältst dich bedeckt. Ich suche uns einen Unterschlupf. Heute Nacht können wir nichts mehr unternehmen, die Sonne geht bald auf.«

Eine Viertelstunde später kehrte Ed zurück und führte Nils an einer Reihe von Mehrfamilienhäusern vorbei, die alle direkt aneinander gebaut waren. Bei einem davon drückte er die Eingangstür auf.

»Rein hier, dritter Stock.«

Sie blieben vor einer mit Strohsternen dekorierten Tür stehen. Daneben stand ein Schuhschränkchen. Ed zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. An der Garderobe entdeckte Nils einige Mäntel und Anoraks, alle definitiv weiblich. Er schaute Ed zweifelnd an.

»Sind wir hier gerade eingebrochen?«

»Das klingt so hart. Sagen wir lieber, wir sind Überraschungsgäste. Die Überraschung ist, dass die Bewohnerin nichts von uns ahnt.«, grinste Ed verschmitzt.

»Aber woher hast du den Schlüssel?«

»Der lag draußen im Schuhschrank in einem Latschen unter der Einlegesohle.«

»Wie hast du den so schnell gefunden?«

Ed grinste breiter.

»Ich breche seit Jahrhunderten in fremde Häuser ein, die Leute werden nicht schlauer.«

»Und woher wusstest du, dass hier niemand ist?«

»Der vollgestopfte Briefkasten mit dem Zettel ›Pakete bitte bei Gerber abgeben, bin bis 15. in Urlaub!‹ hat mir gewisse Hinweise gegeben. So, und jetzt erst einmal Schluss mit der Fragerei, ich muss mir einen Ruheplatz suchen, bevor die verfluchte Sonne aufgeht. Bleib hier drin, ruh dich aus, schlafe, iss etwas, geh duschen oder sonst was, aber geh auf keinen Fall raus. Mach nicht die Tür auf und sei leise. Ich bin nach Sonnenuntergang wieder da, dann reden wir weiter, ok?«

Nils nickte bestätigend und Ed verließ die Wohnung.

Seit Ed das Stichwort Essen erwähnt hatte, wurde ihm bewusst, dass er noch nichts gegessen und Hunger hatte. Bisher hatte das Adrenalin dafür gesorgt, dass das Hungergefühl unterdrückt wurde, aber nun, da die unmittelbare Gefahr vorüber schien, forderte der Körper sein Recht ein.

In der Küche fand er einige Dosensuppen, von denen er eine öffnete und in der Mikrowelle erhitzte. Nach dem Essen suchte er das Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Er kramte den Zeitungsausschnitt hervor und las ihn immer wieder. Die Erinnerungen an frühere Zeiten übermannten ihn. Tränen stiegen in seine Augen und das quälende Gedankenkarussel mit Fragen nach dem Wie, Warum und Wer begann sich zu drehen. Trotz allem wich die Anspannung langsam von ihm und erschöpft fiel er kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.

Nils erwachte gegen Mittag, wie ihm ein Blick auf den fremden Wecker signalisierte. Er machte schnell das Bett und versuchte, alle Spuren seiner Anwesenheit zu vertuschen. Er schlurfte müde ins Bad. Seine Kleider waren dreckig und verschwitzt, generell fühlte er sich überall beschmutzt, daher zog er sich kurzerhand aus und stopfte alles in die Waschmaschine, bevor er sich unter die Dusche stellte. Er ließ ausgiebig das heiße Wasser auf sich niederprasseln und kam sich das erste Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, wieder wie ein Mensch vor. Er fand nur ein Duschgel mit femininem Orchideen- und Rosenduft, aber das war ihm dann auch egal und er bediente sich großzügig davon.

Nachdem er fertig war, fischte er sich ein großes Handtuch von einem Wandregal und rubbelte sich kurz durch die Haare. Mit einer Bürste kämmte er seine kupferfarbenen Locken alle nach hinten. So einfach ließen diese sich nicht bändigen. Er wusste, wenn sie trocken waren, würden sie sich ohnehin wieder legen, wie sie wollten, aber so sah es wenigstens nicht ganz danach aus, als hätte er mit nassen Fingern in eine Steckdose gefasst. Er lief mit dem Handtuch ins Wohnzimmer und breitete es auf dem Teppich vor der Balkontür aus und legte sich nackt darauf, um in der Sonne zu trocknen.

Wieder versuchte er, für sich zu rekonstruieren, wie er in diese Lage geraten war. Aber zwischen seinem Nickerchen zuhause und dem Erwachen in der Zelle war einfach Leere. Wieso hatte er überhaupt nichts von dem Überfall und seiner Entführung mitbekommen? Er überlegte, was er an dem Tag getrunken hatte und ob ihm vielleicht jemand ein Betäubungsmittel hätte unterjubeln können, aber es fiel ihm nichts Verdächtiges ein.

Und welchen Grund gab es überhaupt, ihn zu entführen und seine Eltern umzubringen?

Er war fest entschlossen, es herausfinden. Wer dahinter steckte und warum man ihnen das angetan hatte. Auch was Edward zu seinem Blut gesagt hat, ging ihm durch den Kopf. Bis vor kurzem hätte er über den Gedanken an real existierende Vampire gelacht, aber wenn es Experten für Blut gab, dann ja wohl einen Vampir!

Nils musste sich eingestehen, dass sein altes, beschauliches Leben vorbei war und es kein Zurück gab. Umso mehr wollte er wissen, wer hinter all dem steckte und aus welchem Grund man seine bisherige Welt auf den Kopf gestellt hatte. Und den Schuldigen zur Verantwortung ziehen.

Mit diesen Gedanken döste er ein.

Gejagt!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt