Kapitel 1

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*Ardys Sicht*
Zitternd nahm ich mir eine meiner drei Decken, rollte sie zusammen und klemmte sie unter meinen Arm, bevor ich mich auf den Weg zur Stadt machte. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, gleich wieder in der Öffentlichkeit zu sein, aber irgendwie musste ich ja an Geld kommen. Kurz schüttelte es mich und ich zog mir meine verdreckte Kapuze tief ins Gesicht, während ich den kurzen Waldweg entlang lief. Je näher ich der Stadt kam, desto schneller schlug mein Herz und zu allem Überfluss fing es auch noch an zu regnen. Kalt war es sowieso schon, weil der Herbst langsam zu Ende ging, und meine dünnen Klamotten, die teilweise auch kaputt und ziemlich eng waren, halfen auch nicht wirklich. Aber ich bin es ja gewohnt und bei meinem Glück würde sich das eh nie ändern... Nach wenigen Minuten kam ich bei der Stadt an und mein Herz raste wie immer. Überall waren Menschen. Zu viele Menschen und alle waren potentielle Berührungspunkte. „Aus dem Weg du Penner.“, fauchte plötzlich ein Mann hinter mir und rempelte mich so stark zur Seite, dass ich hin fiel. Meine Decke, mit der ich mich eigentlich etwas wärmen wollte, landete in einer Pfütze und ich könnte schon wieder heulen. Aber ich riss mich zusammen, nahm mir meine Decke und lief weiter, bis ich an einem belebten Platz ankam. Ich hasste es hier und meine Phobie verschlimmerte sich eigentlich nur. Aber ich hielt es gerade so aus und setzte mich schließlich an eine Hauswand. Meine Decke legte ich vorübergehend neben mich und musste nun erstmal meine Angst unter Kontrolle bekommen. Und als ich das zumindest ein bisschen geschafft hatte, fing ich an, manche Leute nach etwas Kleingeld zu fragen. Es war so demütigend und ihre zum Teil spottenden Blicke taten einfach weh. Viele meinen auch, dass ich mir einen Job suchen soll, aber so einfach ist das für mich nicht. Das haben meine Eltern auch gut bedacht, als sie mich in einer fremden Stadt ausgesetzt haben. Anfangs wusste ich nicht mal, wo ich überhaupt bin und wollte einfach an einen Ort ohne Menschen. So fand ich mein jetziges, und wahrscheinlich für immer bleibendes, zu Hause. Ein abgelegenes und halb eingestürztes Haus im Wald. Dort fühlte ich mich nicht sicher, aber es war tausendmal besser, als von Menschen umgeben zu sein, die mich auslachten und verspotteten... oder verprügelten. [...] Nach endlos erscheinenden Stunden hatte ich endlich etwas Kleingeld zusammen, 63 Cent, um genau zu sein, und damit würde ich mir mein Brötchen für den Tag holen. Leider durfte ich mich nicht länger als nötig beim Bäcker aufhalten, um mich zu wärmen. Das war schade, aber es wunderte mich nicht. Immerhin war mein Äußeres alles andere als ansprechend und ich will sowieso nicht auffallen. Also würde ich mir schnell ein Brötchen holen und ganz schnell wieder gehen. Wie immer... Ich wollte gerade nach meinem Becher mit dem Geld greifen, als mir plötzlich ein Jugendlicher gegen die Hand trat. Dadurch flog mir natürlich der Becher aus der Hand und ein großer Teil des Geldes landete im Gulli. „Such' dir 'n Job, Penner.“ Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurück halten und diese waren gerade auch meine einzige Wärmequelle. Dennoch gab ich keinen Ton von mir, kroch gedemütigt über den Gehweg und sammelte die Kupfermünzen ein. Da hockte sich plötzlich eine vornehm gekleidete Person vor mich und hob ebenfalls ein paar Münzen auf. Durch meine Kapuze konnte ich das Gesicht des Mannes nicht sehen, doch als er die Münzen in meinen Becher tat, sah ich ihn unsicher an. Er sah wirklich schön aus, mit seinen blauen Augen, blauen Haaren und Tattoos im Gesicht, aber mehr als ein leises 'Danke' bekam ich nicht heraus. Freundlich lächelte er. „Kein Problem.“ Während er das sagte, legte er noch etwas in meinen Becher und hielt mir anschließend seinen Regenschirm hin. „Behalte ihn. Du brauchst ihn mehr als ich.“ Überrascht sah ich ihn an. „Meinen Sie das ernst?“ „Ja natürlich... Das bisschen Regen macht mir nichts aus.“ „V-vielen Dank.“ Zum ersten Mal seit Jahren war ich mal wieder etwas glücklicher und fühlte etwas Wärme in meiner Brust. Auch wenn ich ziemlich aufgeregt war. Zögernd und immer stärker zitternd griff ich nach dem Schirm, natürlich ohne den Fremden zu berühren. Dann standen wir auf und der Mann wünschte mir einen schönen Tag, bevor er sich umdrehte und gehen wollte. Als ich jedoch in meinen Becher sah, stockte mir der Atem...

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